Das Geschenk der Sterne
wiederzusehen. Wer bei dem Bau der Mauer zu langsam arbeitete, wurde mit Stockschlägen bestraft, und wer bei der Arbeit vor Erschöpfung zusammenbrach, wurde so lange geprügelt, bis er entweder aufstand und weiterarbeitete oder starb. Als ich meinen Blick hob, sah ich im Licht des Mondes die gewaltigen Ausmaße der großen Mauer, für deren Bau die Zwangsarbeiter ihr Leben opfern mußten. Ich wurde von Mitgefühl überwältigt, kniete mich auf den Boden und strich den beiden armen Männern zärtlich über die Köpfe, doch sie spürten es nicht.«
Yu Lin wischte sich mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht.
»Die beiden Männer«, setzte sie nach einer Weile ihre Erzählung fort, »sprachen auch von einer vom Kaiser angeordneten, großen Bücherverbrennung, bei der alle geschichtlichen Aufzeichnungen, die nicht aus dem Reich Tjin stammten, vernichtet wurden. Auch alle Weisheitsbücher, Lieder und Urkunden wurden verbrannt, und wenn jemand sich ablehnend darüber äußerte, richtete man ihn hin. Wer es wagte, anhand dieser Schriften die herrschende Ordnung in Frage zu stellen, wurde mitsamt seinen Angehörigen zum Tod verurteilt. Allen Menschen, die im Besitz solcher Schriften waren, wurde befohlen, sie innerhalb eines Monats zu
verbrennen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, mit einem Brandmal im Gesicht und Zwangsarbeit bestraft zu werden. Etwa fünfhundert Gelehrte, die sich gemeinsam gegen die große Bücherverbrennung wandten, wurden hingerichtet.«
»Daß ein solcher Unmensch eines Tages Herrscher über alle Länder unter dem Himmel wird, ist eine sehr traurige Vorstellung. Doch das ist der Weg der Welt, seit die Menschen aus dem Tao gefallen sind«, sagte Tschuang Tse mit betrübter Miene.
Yu Lins Hände zitterten nicht mehr, doch immer noch hielt sie ihre Augen geschlossen.
»Dieser Kaiser erläßt Gesetze, die das Verhalten der Menschen durch die Androhung von Strafen und Aussicht auf Belohnungen regeln«, sprach sie weiter. »Eins davon befiehlt allen Bauern, in Gruppen von je fünf Familien das Land zu bestellen. Jedes einzelne Gruppenmitglied ist mitverantwortlich für die Taten der anderen und muß die kleinste Abweichung eines Gruppenmitglieds von den Vorschriften und Gesetzen der Obrigkeit anzeigen. Wer einen Abweichler nicht verrät, wird in zwei Teile gehackt. Wer ihn verrät, wird mit Geld und Waren belohnt. So beäugt jeder mißtrauisch und ängstlich den anderen, und alle ihre Herzen werden dadurch vergiftet. Dieses Gesetz sowie die Allgegenwart seiner Soldaten und Beamten sichern die Macht des Kaisers bis in die entlegensten Winkel des Reiches. Über all dies sprachen die beiden armen Männer, bis die Müdigkeit sie überwältigte. Bevor sie einschliefen, sagte der ältere
Mann noch zu dem jüngeren, er fühle, daß er bald sterben werde, doch es hätte ohnehin keinen Sinn, in einer Welt zu leben, die von einem Ungeheuer in Menschengestalt beherrscht wird.«
Yu Lin öffnete die Augen und sah um sich, als wäre sie aus einem Schlaf erwacht.
»Weißt du, wann dieser Mann an die Macht kommen wird?« fragte Min Teng.
»Wir werden es wohl nicht mehr erleben«, sagte sie, »aber ich habe das Gefühl, die Zeit ist nicht mehr allzu fern.« Sie atmete tief durch und wirkte erleichtert, als hätte sie sich von den schrecklichen Eindrücken ihres Wahrtraums dadurch befreit, daß sie darüber gesprochen hatte.
DIE MASSLOSE GLEICHGÜLTIGKEIT DES SCHICKSALS
»Hat es euch geschmeckt?« erkundigte sich Mo Tschen, als er sich eine Weile später zu den Flüchtlingen setzte, die inzwischen ihre Mahlzeit beendet hatten.
»Es war vorzüglich«, antwortete Tschuang Tse. »Ich habe lange nicht mehr so gut gegessen. Deine Frau ist wirklich eine hervorragende Köchin.«
Mo Tschen lächelte zufrieden. »Und seid ihr auch satt geworden?«
»Ich könnte kein einziges Reiskorn mehr essen«, sagte Min Teng und legte die Hand auf seinen Bauch, während Tschuang Tse und Yu Lin zustimmend nickten.
»Das freut mich! Sagt mir doch, wie geht es meinem
Schwager Kun Liang? Ich habe ihn schon so lange nicht mehr gesehen! Er schreibt in seinem Brief viel Gutes über euch, aber gar nichts über sich.«
»So ist er immer, er stellt sich zurück zugunsten der anderen. Er ist gesund, aber kommt nur selten zur Ruhe, weil er sich von früh bis spät um die Kranken kümmert«, gab Yu Lin Auskunft. »In den letzten drei Jahren habe ich ihm im Rahmen meiner Möglichkeiten dabei geholfen, wobei er sein großes Heilwissen
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