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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kruppa
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Grenzgebietes.«
    »Tiger greifen Menschen nur dann an, wenn sie sich von ihnen bedroht fühlen«, wandte Min Teng ein.
    »Dieser nicht! Er hat vor etwa einem Monat unweit der Stadt einen Jäger getötet, vom dem er sich vielleicht bedroht gefühlt hatte. Seitdem sind ihm mehr als zehn Menschen zum Opfer gefallen, die ihn sicherlich nicht bedroht haben: Holzfäller, Kräutersucher, Honigsammler, Händler, Schmuggler. Er hat einmal Menschenfleisch gefressen, und nun will er aus unerfindlichen Gründen nichts anderes mehr. In der letzten Woche haben sich alle Jäger von Mang Wu zusammengetan und sind in die Wälder geritten, um den Menschenfresser zu erlegen, aber sie haben ihn trotz langer und gründlicher Suche nicht gefunden. Übermorgen wollen sie sich wieder auf die Jagd begeben.«
    »Die Wälder des Grenzgebietes sind riesig«, bemerkte Yu Lin.

    »Das sind sie sicherlich«, stimmte Mo Tschen ihr zu. »Doch für die Opfer des Menschenfressers waren sie nicht riesig genug.«
    »Wir werden deine Warnung beherzigen«, versprach Tschuang Tse.

DAS TAO IST ÜBERALL

    »Kun Liang schreibt in seinem Brief, daß die Saat des Tao, die Lao Tse vor mehr als zweihundert Jahren ausgeworfen hat, im Garten deiner Seele ihre volle Blüte erlangt hat«, sagte Mo Tschen zu Tschuang Tse.
    »Kun Liang hatte schon immer eine Neigung zur Poesie. Und er ist einer jener seltenen Menschen, die trotz eines ständigen Mangels an Muße ein hohes Maß an Weisheit besitzen.«
    »Er schreibt auch«, ergänzte Mo Tschen, »daß ich die einmalige Gelegenheit nutzen soll, dir die wichtigsten Fragen zu stellen, die mir auf dem Herzen liegen.«
    »Dann stelle sie mir!«

    »Die wichtigste Frage lautet: Wie finde ich den Weg ins Tao?«
    »Dieser Weg läßt sich weder beschreiben, lehren noch schenken, weder üben noch planen. Er ist so einzigartig wie der Mensch, der ihn geht. Wenn du dazu berufen bist, wirst du das Tao finden.«
    »Kann ich denn gar nichts dafür tun?«
    »Was immer du auch tust: Tue es nicht, um das Tao zu finden, sondern um deiner selbst willen! Verschaffe dir so viel Muße wie möglich, denn in der Muße findet deine Seele zu sich selbst, und nur eine Seele, die bei sich ist, kann sich dem Tao nähern. Folge deinen Eingebungen, hüte dich vor der besserwisserischen Beschränktheit des Verstandes und halte dich von der Verwirrung fern, die den Geist der Menschen befallen hat.«
    Nachdem Mo Tschen eine Weile über Tschuang Tses Worte nachgesonnen hatte, gestand er: »Als Kind war ich eine Frohnatur, kein Tag verging ohne Gelächter, für jeden Menschen hatte ich ein Lächeln, und von der Zukunft erhoffte ich mir Freude und Glück. Doch mit den Jahren und Jahrzehnten habe ich gelernt, dem Schicksal zu mißtrauen und nichts im Leben für sicher zu halten, weil ich weiß, daß mir alles von heute auf morgen genommen werden kann. Dieses Wissen macht mir zu schaffen und überschattet meine angeborene Lebensfreude.«
    »Laß dich nicht durch den ständigen Wechsel der Dinge verstören«, riet Tschuang Tse. »Geburt und Tod, Verlust und Gewinn, Erfolg und Scheitern, Glück und
Unglück wechseln einander ab gemäß dem Lauf des Schicksals. Der Weise läßt sich durch diese ständigen Veränderungen nicht den inneren Einklang stören, läßt sie nicht eindringen in das Haus der Seele, in der die Freude ihren festen Wohnsitz haben soll. Wer es vermag, sich in allen Lebenslagen diesen inneren Einklang zu bewahren und seine Freude nie zu verlieren, der hat den Weg ins Tao gefunden.«
    In Mo Tschens Gesicht spiegelten sich widersprüchliche Empfindungen. »Ich frage mich, inwieweit sich Weisheit von Herzlosigkeit unterscheidet. Ich habe drei Menschen verloren, die ich sehr liebte und noch immer liebe. Die Jahre sind vergangen, aber mein Kummer ist geblieben. Ich werde wohl immer darunter leiden, daß meine kleine Tochter und meine Geschwister gestorben sind, und deshalb nie das Tao erfahren.«
    »Es gibt einen großen Unterschied zwischen Herzlosigkeit und Weisheit«, sagte Tschuang Tse. »Herzlosigkeit ist Gefühlsarmut, Weisheit ist Seelenreichtum. Du wirst so lange leiden, bis du dein Schicksal annimmst.«
    Mo Tschen seufzte und senkte den Kopf wie unter einer unsichtbaren Last. »Wie soll ich dieses Schicksal jemals annehmen? Ich liebe meine Frau und meinen Sohn, ich will ihnen ein guter Mann und Vater sein, und sie sollen nicht unter meinem Kummer leiden – deshalb lasse ich ihn sie nicht spüren. Aber etwas in mir ist zerbrochen, und

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