Das Geschenk der Sterne
ich fürchte, daß keine Weisheit der Welt es jemals wieder heilen kann.«
Lange sagte niemand am Tisch ein Wort.
»Es tut mir leid, daß ich euch mit meinem Kummer behelligt habe«, beendete Mo Tscheng schließlich das Schweigen. »Ihr seid meine Gäste, und ich sollte euch mit Heiterkeit bewirten und beherbergen. Ich konnte mich nicht beherrschen. Es tut mir sehr leid!«
Tschuang Tse erwiderte: »Du bist als ein froher Mensch auf die Welt gekommen und solltest sie als ein froher Mensch verlassen. Wir alle haben bittere Verluste erlitten. Min Teng hat seine Eltern verloren, Yu Lin ihren Vater und in gewisser Weise auch ihre Mutter, ich habe meine Frau verloren. Jedes Herz braucht seine Zeit, um zu trauern. Doch dann sollte es sich wieder der Freude zuwenden.«
»Glaubst du«, wandte sich Yu Lin an den Gastwirt, »deine Tochter, deine Schwester und dein Bruder hätten gewollt, daß du bis zu deinem Tod um ihren Tod trauerst? Hätten sie nicht vielmehr gewollt, daß du dir deine Freude am Leben erhältst?«
»Nun«, erwiderte Mo Tscheng nach kurzem Nachdenken, »sie hätten wohl gewollt, daß ich mir meine Lebensfreude erhalte.«
»Dann solltest du ihren Willen achten!« forderte Tschuang Tse ihn auf. »Und rede dir nicht ein, daß du nie den Weg ins Tao finden wirst. Jeder Mensch mit einer unbeugsamen Sehnsucht nach der Quelle allen Lebens kann ihn finden!«
Mo Tschen blickte dem Weisen eine Weile in die Augen, wobei sich seine gequält wirkende Miene mehr und mehr entspannte. »Ich werde über deine Worte nachdenken,
Tschuang Tse! Wenn ein Mensch in Einklang mit dem Tao lebt, ist er dann frei von Schmerz und Kummer über bittere Verluste?«
»Wenn ein Mensch des Tao einen geliebten Menschen verliert, befallen ihn Kummer und Leid wie jeden anderen auch, aber er geht anders damit um. Er trägt es nicht Jahr um Jahr mit sich, sondern befreit sich zur rechten Zeit davon durch tiefe Einsicht in die Unabänderlichkeit des Schicksals. Immer aufs neue zu trauern und zu klagen, hieße für ihn, Fesseln und Lasten zu tragen, die ihn nur einschränken und niemandem nützen würden. Der Mensch des Tao lebt im Land der Freiheit, und nichts kann ihn daraus vertreiben.«
»Was zeichnet ihn noch aus?« fragte Mo Tschen.
»Weisheitsloses Wissen betrachtet er als ein Übel, gegebenes Wort empfindet er als Leim. Er schmiedet keine Pläne, wozu bedarf er also weisheitslosen Wissens? Er kennt weder Bruch noch Trennung, wozu braucht er also Leim? Er hat die Gestalt der Menschen, aber nicht ihre Leidenschaften. Weil er ihre Gestalt hat, lebt er unter ihnen. Da ihm menschliche Leidenschaften aber fremd sind, haben menschliche Wertungen und Urteile keinen Einfluß auf sein Leben.«
»Kann ein Mensch ohne Leidenschaften überhaupt als Mensch bezeichnet werden?«
»Ein Mensch ohne Leidenschaften ist für mich einer, der sein inneres Wesen nicht durch seine Zuneigungen und Abneigungen schädigt und in allen Dingen der Natur folgt.«
»Du sagtest eben, der Weg ins Tao sei nicht zu beschreiben. Kannst du zumindest andeuten, wo das Tao ist?« fragte der Gastwirt.
»Es ist allgegenwärtig.«
»Kannst du es näher bestimmen?«
»Es ist in der Ameise, die gerade an deinem Fuß vorbeiläuft.«
»Wo ist es noch?«
»Es ist in allem, was wir eben gegessen haben.«
»Ist es auch in den Gegenständen?«
»Es ist in dem Tisch, an dem wir sitzen; in den Wänden, die uns umgeben; in der Kleidung, die wir tragen. Es gibt nichts zwischen Himmel und Erde, in dem es nicht ist. Das Tao ist überall, und doch gibt es kaum einen Menschen, der es erkennt.«
»Warum ist das so?« fragte Mo Tscheng.
»Weil die Menschen, seit sie im Altertum aus dem Tao gefallen sind, dem Verstand folgen. Der Verstand aber kann das Tao nicht erkennen. Er gleicht dem Frosch in einem ausgetrockneten Brunnenloch, der einst zu einer Riesenschildkröte des Ostmeeres sprach: ›Dein Neid auf mein herrliches Leben muß groß sein, denn meine Freude ist unübertrefflich! Wenn ich Lust dazu habe, kann ich auf den Rand des Brunnens hochspringen, dort munter herumhüpfen und mich an der Sonnenwärme ergötzen. Will ich wieder auf den Grund des Brunnens zurück, kann ich mich unterwegs auf den zerbrochenen Ziegelstücken der Brunnenwand ausruhen. In dem Regenwasser und dem Schlamm auf dem Boden kann ich
nach Herzenslust baden und mich suhlen. All dies habe ich ganz allein für mich und kann es immer aufs neue auskosten. Gibt es ein größeres Glück als meins? Willst du
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