Das Geschenk der Sterne
beendet hatte, legte er Hammer und Meißel beiseite, ging die Treppe zum Saal hinauf und fragte den Herzog, was für ein Buch er lese. Der Herzog sagte, es sei ein Buch, das die Worte der Weisen überliefere.
›Leben diese Weisen noch?‹ fragte der Wagner, worauf der Herzog antwortete, daß sie schon lange tot seien. ›Dann ist das, was du liest‹, bemerkte der Wagner, ›nur Plunder und Krempel verstorbener Männer!‹
Diese Worte erzürnten den Herzog sehr, und er sagte: ›Wie kann ein Stellmacher sich anmaßen, dieses Buch mit den Gedanken bedeutender Weiser so herablassend zu tadeln? Wenn du dein Urteil gut begründen kannst, so will ich dir deine Worte verzeihen. Wenn dir die Begründung mißlingt, mußt du noch vor Sonnenuntergang sterben!‹
Unbeeindruckt erklärte der Wagner: ›Als Stellmacher betrachte ich die Sache aus dem Blickwinkel meines Berufes. Wenn mein Hammerschlag beim Anfertigen eines Rades zu langsam ist, geht er zwar tief, doch es mangelt ihm an Gleichmäßigkeit. Ist mein Schlag zu schnell,
so ist er zwar gleichmäßig, aber nicht tief genug. Das richtige Maß, der weder zu schnelle noch zu langsame Schlag, läßt sich nicht lernen und nicht lehren. Dieser vollkommene Schlag des Hammers gelingt der Hand nur, wenn er aus dem Herzen kommt. Dies ist kein Können, sondern eine Kunst, die ich nicht einmal meinem Sohn erklären und beibringen kann. Darum kann ich ihm nicht meine Arbeit überlassen, und so stehe ich hier mit meinen siebzig Jahren und mache immer noch Räder. Meiner Meinung nach muß es mit der Weisheit verstorbener Menschen genauso gewesen sein. Das Wertvollste, was sie erkannt hatten, konnten sie nicht weitergeben – und nahmen es mit ins Grab. Der Rest geriet in ihre Bücher. Deshalb sagte ich, was du liest, ist der Plunder und Krempel vergangener Männer.‹
Der Herzog wurde sehr nachdenklich, und der Wagner fertigte noch jahrelang Räder von unübertroffener Güte an.«
Auch Mo Tschen wurde sehr nachdenklich. Schließlich nickte er, als hätte er die Botschaft der Geschichte verstanden, konnte aber nicht umhin zu fragen: »Dann ist es nicht das, was du sagst, das meine Seele erhellt, sondern deine lebendige Gegenwart?«
Tschuang Tse schwieg, als wollte er Mo Tschen auffordern, eine eigene Antwort auf seine Frage zu finden.
»Es ist wohl das Zusammenwirken von beidem«, sagte Yu Lin. »Seine Worte strahlen, weil sie von dem Licht seiner Seele erfüllt sind. Seine Worte könnte er
aufschreiben, aber wie soll er das Licht seiner Seele in Schriftzeichen füllen? Doch vielleicht bliebe ein Abglanz seines Seelenlichts in den Schriftzeichen erhalten. Kun Liang hat mir das Buch des Lao Tse zum Abschied geschenkt. Ich habe schon sehr oft darin gelesen, und manchmal schien es mir dabei, als würde ich das Licht der Seele Lao Tses darin erblicken. Noch vor wenigen Tagen habe ich es leuchten sehen, als ich die Worte über seine Schätze las.«
»Welche Schätze?« fragte Min Teng.
»Er schreibt, daß er drei Schätze besitzt: die Liebe, die Genügsamkeit und die Bescheidenheit. Die Liebe gibt ihm Mut, die Genügsamkeit schenkt ihm Weitherzigkeit, die Bescheidenheit ermöglicht ihm Wachstum. Mut ohne Liebe, Weitherzigkeit ohne Genügsamkeit, Wachstum ohne Bescheidenheit führen allesamt ins Verhängnis. Wer Liebe hat im Kampf, der siegt. Wer Liebe hat in der Verteidigung, der ist behütet. Wen der Himmel retten will, dem schenkt er Liebe.«
»Wahre Worte seien oft nicht schön und schöne Worte oft nicht wahr, schreibt Lao Tse im letzten Sinnspruch seines Buches«, sagte Tschuang Tse. »Doch die Worte Lao Tses, die Yu Lin uns gerade mitgeteilt hat, sind zugleich wahr und schön.«
Yu Lin lächelte den Weisen an. »Ich teile übrigens Mo Tschens Meinung: Du solltest ein Buch schreiben! Worte haben eine große Macht, und einmal aufgeschrieben, sind sie unvergänglich. So könntest du die Menschen noch in Hunderten und Tausenden von Jahren
mit deinen Gedanken erreichen und bereichern. Ist diese Aussicht nicht die Mühe wert, ein Buch zu schreiben?«
Tschuang Tse erwiderte ihr Lächeln, ließ sich aber nicht anmerken, ob er Yu Lins Rat folgen würde.
»Meinst du nicht auch«, wandte sie sich an Min Teng, »daß Tschuang Tse ein Buch schreiben sollte?«
»Er bemüht sich darum, nutzlos zu sein«, erwiderte Min Teng. »Warum sollte er also ein Buch schreiben? Andererseits macht es ihm manchmal Freude, die Saat des Tao auszuwerfen. Es besteht also eine gewisse Hoffnung, daß er
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