Das Geschenk der Sterne
nicht einmal in mein Brunnenloch kommen und es dir aus der Nähe ansehen?‹
Die Riesenschildkröte lachte und antwortete: ›Siehst du denn nicht, daß ich gar nicht in dein Brunnenloch passe? Da du so freundlich warst, mir von ihm zu erzählen, will ich dir etwas über das Ostmeer sagen. Stelle dir eine Ausdehnung von Tausenden von Meilen vor, und du hast noch keinen Begriff von seiner Weite. Stelle dir die tausendfache Höhe des menschlichen Körpers vor, und du hast noch keinen Begriff von seiner Tiefe. Keine noch so langen Dürrezeiten auf dem Land können seinen Wasserreichtum vermindern, keine noch so langen Regenzeiten ihn vergrößern. Völlig unberührt von allen äußerlichen Einflüssen ruht es in sich selbst, und die Zeit geht spurlos an ihm vorbei. In diesem unermeßlich tiefen und weiten Meer bin ich zu Hause. Und nicht nur bin ich dort zu Hause, ich bin ein Teil des Meeres, ich habe mich mit ihm vereint. Gibt es ein größeres Glück als dieses?‹
Als der Brunnenfrosch diese Worte hörte, erschrak er furchtbar und wurde vor Entsetzen fast ohnmächtig.«
»Wenn der Brunnenfrosch dem Verstand gleicht«, sagte Mo Tschen, »wem gleicht dann die Riesenschildkröte?«
»Sie gleicht der Seele«, antwortete Tschuang Tse, »die sich der Unermeßlichkeit der Schöpfung bewußt ist und
sich in ihr geborgen fühlt. Nur die Seele mit der ihr eigenen Weisheit vermag das Tao zu erkennen und in ihm aufzugehen. Seit die Menschen aus dem Tao gefallen sind und den Zugang zu ihrer Seele verloren haben, folgen sie dem Verstand und sehen in ihrer Verblendung nicht, daß er sie tiefer und tiefer ins Unheil führt.«
»Aber der Verstand ist uns in so vieler Hinsicht nützlich«, wandte Mo Tschen ein. »Dank ihm haben wir gelernt, wie man Häuser, Schiffe, Brücken, Karren baut, wie man Werkzeuge herstellt und sinnvoll mit ihnen arbeitet, wie man Gärten und Felder bewässert, wie man Krankheiten bekämpft.«
»Ich stelle die Nützlichkeit des Verstandes nicht in Frage«, sagte Tschuang Tse. »Aber trotz seines großen Erfindungsreichtums ist er in seiner eigenen, kleinen Welt gefangen wie der Ochsenfrosch in seinem Brunnenloch. Wenn man ihn weise benutzt, gleicht er einem Pferd, das von einem guten Reiter gelenkt wird. Doch wenn die Weisheit fehlt, die den Verstand lenken muß, schwingt das Pferd sich zum Reiter auf und galoppiert in heilloser Verwirrung umher.«
DER KAMPF DER HERZEN
Nachdem Mo Tschen eine Weile über Tschuang Tses Worte nachgedacht hatte, sagte er: »Seit vielen Generationen herrscht unentwegter Krieg zwischen den Ländern und den Menschen, unterbrochen nur von Zeiten der Waffenruhe. Es gibt Gebote und Gesetze, die für Gerechtigkeit sorgen und das Zusammenleben der Menschen regeln sollen, doch es ist ein einziges Durcheinander, voller kleiner und großer Ungerechtigkeiten. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Überall gibt es Lügner und Betrüger, Räuber und Mörder. Manche von ihnen werden gefaßt und bestraft, andere laufen frei herum. Und der größte Schurke von allen, Prinz Yan, ist der Herrscher unseres Landes. Du sagst, der Verstand habe die Menschen in dieses Unheil geführt. Kann es nicht sein, daß die Natur des Menschen der Grund des ganzen Elends ist?«
»Nein«, versetzte Tschuang Tse. »Der Grund ist der Verlust der wahren Natur des Menschen und der dadurch
entstandenen Verwirrung, die zu der maßlosen Überschätzung des Verstandes geführt hat.«
»Dann sag mir: Wodurch ist die Menschenwelt in so große Unordnung geraten?
»Im Altertum lebten alle Menschen im Tao vereint wie eine große Familie in einem großen Haus. Doch irgendwann strebten einige Mitglieder dieser Familie danach, besser und klüger, wichtiger und mächtiger als die anderen zu sein. Von Eitelkeit und Geltungsdrang verführt, traten sie aus dem Tao heraus und fingen damit an, durch ihre Anmaßung die natürliche Einheit aller Menschen zu zerstören. So begann das große Haus des Tao zu verfallen. Mit den Jahrtausenden haben die Menschen es dem Erdboden gleichgemacht, und heute zeugt nichts mehr von seiner einstigen Schönheit.«
»Können die Menschen das Haus des Tao nicht wieder aufbauen, wenn sie eines Tages erkennen, daß sie es verfallen ließen?«
»Mo Tschen, sie werden niemals erkennen, daß sie es verfallen ließen! Und selbst wenn sie es erkennen würden und es wieder aufbauen wollten, könnten sie es nicht, denn das Haus des Tao wurde nicht von Menschenhand gebaut. Glaubst
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