Das Geschenk der Wölfe
sei er nicht verpflichtet, es sei denn, jemand legte eine richterliche Anordnung vor. Im Übrigen sei sie gerade dabei zu prüfen, ob ein privat betriebenes Labor in Sausalito, das ihr von dem russischen Arzt aus Paris empfohlen worden sei, geeignet war, um dort in aller Stille eigene Forschungen zu betreiben.
Des Weiteren warnte sie Reuben ganz entschieden davor, mit Reportern zu sprechen. Jede neue Information über den Wolfsmenschen sei für diese Bande ein Grund mehr, Reuben auf die Pelle zu rücken. Inzwischen kämen sie sogar schon an die Haustür und riefen die Familie auf der privaten Festnetznummer an.
Billie hatte um seine Einschätzung des Wolfsmenschen-Hypes gebeten.
Reuben fand, dass es vielleicht tatsächlich Zeit dafür war. Es war wirklich nicht zu fassen, was Fernsehen, Radio und Presse alles zu dem Thema absonderten. Auch online hatte er sich einen Überblick verschafft, wie die Nation auf diese Sache reagierte.
Er fühlte sich so wohl in seinem Haus mit Laura, dass er sich in der Lage fühlte, ein wenig zu arbeiten. Warum auch nicht?
Er überlegte kurz, dann fing er an.
Nachdem er mit wenigen Worten auf die jüngsten Attacken des Wolfsmenschen eingegangen war, schrieb er:
Unsere Lebensart, die der westlichen Zivilisation, ist seit jeher einer kontinuierlichen Entwicklung unterworfen. Auf Fragen von Leben und Tod, Gut und Böse, Recht und Unrecht gab und gibt es keine endgültigen Antworten. Im Zuge persönlicher wie auch gesellschaftlicher Veränderungen müssen sie immer wieder neu gestellt werden. Wir neigen dazu, ethisch-moralische Standards für unantastbar zu halten, und übersehen dabei, dass wir in immer neuen Kontexten entscheiden und handeln. Wenn wir versuchen, unsere Moral von Fall zu Fall neu zu definieren, sind wir nicht rückgratlos.
Warum also romantisieren wir den Wolfsmenschen, der es offenbar als seine Aufgabe betrachtet, Verbrecher ohne zu zögern und mit Mitteln zu bestrafen, die wir nicht gutheißen können?
Woher die breite öffentliche Zustimmung zu seinem Handeln, die ihn geradezu ermuntert, seine nächtlichen Gewaltorgien fortzusetzen, wo doch eigentlich zu erwarten wäre, dass uns seine Grausamkeit abstößt? Darf man ein Monster, das die primitivsten und verabscheuungswürdigsten Triebe auslebt und brutal tötet, als einen Superhelden feiern? Selbstverständlich nicht. Wenn wir in dieser bewegten Zeit nachts ruhig in unseren Betten schlafen, liegt es auch daran, dass wir uns auf Kräfte verlassen können, die tagtäglich für unsere Sicherheit sorgen und diesem Monster auf der Spur sind.
Unser Sozialgefüge, so anpassungsfähig es auch sein mag, kann ein Wesen wie den Wolfsmenschen nicht dulden. Und kein noch so nachdrücklicher Applaus der Massenmedien kann daran etwas ändern.
Wir alle haben unsere Träume und Albträume. Die Kunst speist sich aus einem endlosen Strom von Visionen und Phantasien, aber sie fließen aus einer Quelle, der man nicht blind vertrauen darf. Sosehr uns diese Visionen und Phantasien erfreuen und verblüffen können, sind sie manchmal doch auch lähmend und erschreckend. Wir erleben gerade eine Zeit, in der wir uns von Gewaltphantasien faszinieren lassen.
Obwohl der Wolfsmensch das Zeug zum Albtraum hat, ist er mit Sicherheit kein Traum. Deswegen ist unser Verantwortungsbewusstsein, unser Gewissen gefragt, nicht nur in Bezug auf ihn, sondern auf alle, die seine gewissenlosen Gewaltorgien zu rechtfertigen versuchen.
Kaum war er fertig, mailte er Billie den Text und druckte ihn für Laura aus. Sie las ihn aufmerksam durch, dann umarmte und küsste sie Reuben. Arm in Arm sahen sie eine Weile ins Kaminfeuer.
Reuben fuhr sich mit den Händen durchs Haar. «Sag mir bitte die Wahrheit, Laura. Bist du enttäuscht, dass ich nicht der Mann aus der Wildnis bin, für den du mich gehalten hast? War ich für dich ursprünglich ein Naturwesen, das nicht an Anstandsregeln gebunden und vielleicht einem ganz anderen Moralkodex verpflichtet ist, weil es kein normaler Mensch ist?»
«Enttäuscht …», sagte Laura nachdenklich. «Nein, enttäuscht bin ich ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Ich bin ziemlich verliebt.» Sie sprach leise und selbstgewiss. «Wie soll ich es ausdrücken? Vielleicht so: Du bist ein Mysterium, etwa so, wie ein heiliges Sakrament ein Mysterium ist.»
Reuben sah sie gerührt an. Er wollte sie küssen, sie lieben, gleich hier in der Bibliothek oder an jedem anderen Ort, wenn sie nur einverstanden war. Aber er hatte sich in den
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