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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sie von einem Laserstrahl getroffen, und er konnte den Mond sehen. Es war Vollmond. Das hatte, wie er inzwischen wusste, nichts zu bedeuten, außer dass es ein schöner Anblick war, wie der leuchtende Himmelskörper, von einem Wolkenkranz umgeben, mit fernen Sternen um die Wette leuchtete.
    Reuben wurde bewusst, wie sehr er alles liebte, was ihn umgab – den Mond und das diffuse Licht, den schützenden Wald und den Regen.
    Tief in seinem Inneren war er davon überzeugt, dass es eine Macht gab, die hinter alledem steckte, allem Leben einhauchte und alles mit einer tiefen Liebe nährte und bewahrte – einer Liebe, die so groß war, dass sie seine Vorstellungskraft übertraf. Er betete, dass es so sein möge, und fragte sich, ob nicht der ganze Wald dasselbe Gebet sprach, ob nicht alle Tiere und Pflanzen der Erde in einem einzigen Gebet vereint waren.
    Für die jungen Berglöwen aber, die unter ihm den Baum umkreisten, hatte er keinerlei Mitgefühl. Er konnte an Mitleid denken, es aber nicht empfinden. Dafür war er zu sehr Teil einer Welt geworden, in der solche Gefühle keinen Platz und keinen Sinn hatten. Was hätte den Katzen sein Mitleid auch bedeutet? Sie würden ihn trotzdem zerfleischen, wenn sie die Gelegenheit bekämen. Ihre Mutter hätte das Gleiche getan. Genau wie sie dem Leben von Galtons Hund ein gewaltsames Ende bereitet hatte. Bestimmt hatte sie auch Reuben für leichte Beute gehalten.
    Das Schlimme war, dass er ungleich aggressiver, stärker und brutaler war als alle anderen Lebewesen, mit der die Berglöwin es je zu tun gehabt hatte. Selbst ein Bär konnte ihn nicht besiegen, dessen war er sich gewiss. Aber das würde sich irgendwann zeigen, und die Aussicht auf einen Kampf unter fast gleich Starken reizte ihn.
    Wie sich die Menschen über den Wolfsmenschen doch täuschten, wenn sie ihn für ein Wesen hielten, das sich gedankenlos in Raserei verlor! Ein Wolfsmensch war weder ein Wolf noch ein Mensch, sondern eine gefährliche Mischung aus beidem und um ein Vielfaches stärker und gewitzter.
    Doch das spielte momentan keine Rolle. Alles Denken basierte auf Sprache. Und wer konnte der Sprache schon trauen? Wörtern wie «Monster», «Entsetzen» und «gewissenlos». Wörter, die er gerade erst an Billie gemailt hatte. Was waren sie mehr als schwerelose, durchsichtige Gebilde, die zu schwach waren, um ein Gegengewicht zu etwas so Verlockendem wie einem warmen, pulsierenden Körper darzustellen?
    Große Katze, tote Katze. Katze, die Galtons unschuldigen kleinen Hund getötet hat. Tot. Wie wunderbar!
    Reuben träumte vor sich hin und schleckte das Blut aus der Bauchwunde der Berglöwin, als sei es Honig. «Adieu, Schwestertier», flüsterte er und fuhr ihr mit der Zunge übers Maul. «Du hast tapfer gekämpft, Schwestertier.»
    Dann ließ er von ihr ab und ließ sie fallen. Krachend stürzte sie durch die Zweige, bis sie auf dem weichen Waldboden landete, mitten unter ihren Jungen.
    In Gedanken war er weit weg und wünschte, er könnte Laura in diese wunderbare Welt mitnehmen. Er stellte sich vor, sie sei bei ihm, sicher in seine Arme gehüllt und in einen Tagtraum versunken wie er. Der Wind ließ das Laub rascheln, und tausend Kreaturen zwischen Himmel und Erde raunten und zwitscherten Reuben in einen Halbschlaf.
    Was war mit den Stimmen da draußen, von denen er hier nichts hörte? Rief jemand in den Städten des Nordens oder Südens nach ihm? Befand sich jemand in Lebensgefahr? Von Minute zu Minute fühlte Reuben seine Kräfte wachsen, und es erfüllte ihn mit unheiligem Stolz. Doch wie viele Nächte konnte er die Stimmen ignorieren, wie viele Nächte davor fliehen?
    Dann hörte er plötzlich doch etwas. Ein schriller Schrei drang in sein stilles Lager.
    Tatsächlich war jemand in Gefahr, in tödlicher Gefahr, und Reuben erkannte die Stimme sogar. «Reuben!», ertönte es. «Reuben!» Es war Laura, die nach ihm rief. «Ich warne Sie!», sagte sie schluchzend. «Kommen Sie ja nicht näher!» Dann leises, niederträchtiges Gelächter, und eine andere Stimme sagte: «Was denn, Miss? Mit der Axt da wollen Sie auf mich losgehen?»

[zur Inhaltsübersicht]
    21
    A uf allen vieren hastete Reuben durch den Wald und erreichte Geschwindigkeiten wie nie zuvor.
    «Meine Liebe, Sie machen es mir viel zu leicht. Sie ahnen ja nicht, wie es mich betrübt, unschuldiges Blut zu vergießen.
    «Weg! Gehen Sie weg!»
    Dieses Mal wurde Reuben nicht vom Geruch des Bösen geleitet, denn er konnte nichts riechen. Warum war die

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