Das Geschenk des Osiris
Ableben eines Herrschers erweckte stets die Begehrlichkeit anderer Völker. Sie zettelten gegen Kemi Rebellionen an oder wagten sogar einen Einfall in das Land am Nil. Dem musste vorgebeugt werden.
Itiamun befahl, sofort alle Divisionen zusammenzuziehen und für einen überraschenden Einsatz kampfbereit zu halten. Weiterhin mussten die Soldaten in den Königsfestungen entlang der Ostgrenze sowie dem Horusweg in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt werden. Gleiches galt für die im Süden befindlichen Festungen, allen voran Buhen, welche einen Ansturm der Nubier und Kuschiten abzufangen hatten. Ihnen zur Seite stellte er die Divisionen Amun und Seth, die sich umgehend nach Theben begeben sollten. Die des Ptah und des Re verblieben in der nördlichen Königsstadt.
Nachdem die Generäle ihre Befehle erhalten hatten, wurden sie von Itiamun entlassen, der sich mit Nehi alleine unter vier Augen über die Klärung anstehender Probleme in den folgenden siebzig Tagen der Trauerzeit besprechen wollte. Nach fast zwei Stunden waren diese Fragen geklärt, und die beiden mächtigsten Männer des Reiches verließen den Audienzsaal, um sich in dieser schweren Zeit um das Land zu kümmern.
* * *
Amunhotep nutzte die Zeit der Trauer, um sich mit einer grundlegenden Neustrukturierung des Tempels und vor allem einer Aufstockung des Personals zu befassen. Er hatte von den Mitgliedern der obersten Priesterschaft detaillierte Angaben zu den Domänen des Gottes, seinen Vorräten und Schätzen sowie zum Tempelpersonal erhalten und war nun dabei, alles peinlichst genau durchzuarbeiten. Sein persönlicher Schreiber stand ihm dabei hilfreich zur Seite, und auch von Netnebu wurde er gut unterstützt. Baken und Paheri drängten sich ihm zwar nicht auf, zeigten aber auch keine ablehnende Haltung ihm gegenüber. Einzig Maj und Ipuwer hielten sich abwartend im Hintergrund, und Amunhotep beließ es dabei.
»Ich muss gestehen, dass der Tempel des Osiris nicht mit Opet-sut zu vergleichen ist«, gab der ehemalige Heri-tep des Amun von Theben ehrlich zu. »Hier läuft alles in einem bedeutend kleineren Rahmen ab. Die Domänen sind zwar gut mit Arbeitskräften bestückt, aber im Tempel selbst gedenke ich, einige einschneidende Veränderungen vorzunehmen«, offenbarte er sich Netnebu. »Es gibt zu wenig Personal sowohl in den Reihen der Priester als auch in denen der einfachen Diener. Du kennst Opet-sut. Der Tempel verfügt über ein riesiges Heer an Bediensteten. Ramses hat wie alle Könige dieses Heiligtum mit Geschenken und Kriegsgefangenen überhäuft. Mir ist natürlich klar, dass ich in Abydos mit anderen Maßstäben herangehen muss, aber für meinen Geschmack ist der Osiris-Tempel in den letzten Jahren zu sehr vernachlässigt worden.«
Netnebu hielt bestürzt die Luft an. Das war Kritik am Pharao. Dennoch musste er Amunhotep recht geben.
Osiris, Herrscher über das Reich der Toten, Garant für Auferstehung und Fruchtbarkeit, war über all die Jahrhunderte ein Gott, mit dem sich vor allem das einfache Volk eng verbunden fühlte. In den Augen der Leute aus Theben, Memphis, Heliopolis und Per-Ramses war Abydos zwar tiefste Provinz; trotzdem stand genau hier das bedeutendste Heiligtum, zu dem jeder Kemiter wenigstens einmal im Leben eine Pilgerfahrt unternahm, um für ein glückliches Leben im Schönen Westen zu beten. In Abydos ruhte der Kopf des Großen Gottes Osiris; es befanden sich hier die Gräber der ersten Könige Kemis.
Abydos’ Bewohner waren stolz auf ihre Stadt. Unter Osiris Sethos I. und dessen Sohn Osiris Ramses II. waren sowohl der Tempel als auch die Stadt zunehmend aufgeblüht. Im Laufe der Zeit hatte jedoch das Interesse der nachfolgenden Herrscher wieder abgenommen und sich erneut auf den Amun von Theben konzentriert – zum einen, weil er als Schutzgott der Pharaonen galt, die die fremdländischen Eroberer aus dem Land vertrieben hatten, zum anderen, weil mancher Herrscher fürchtete, die Amun-Priesterschaft und vor allem ihr Hohepriester könnten zu mächtig werden.
»Ich weiß, was du sagen willst«, antwortete Netnebu. »Es steht zwar weder dir noch mir zu, Osiris Ramses Nachlässigkeit zu unterstellen. Dennoch, er hatte allmählich die kleineren Tempel aus den Augen verloren und sich zu sehr um die großen in Theben, Memphis und Heliopolis gekümmert. Ich weiß, wovon ich rede, Amunhotep. Ich lebe und arbeite seit Jahren in diesem Heiligtum. Das beste Beispiel ist Djefahapi. Als Oberpriester von Abydos hatte er
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