Das Geschenk des Osiris
sich Nesamun nicht nehmen lassen würde, dem König das letzte Geleit zu geben. Er hatte Ramses VI. stets treu gedient, der ihn im Gegenzug als seinen Freund bezeichnet hatte. Eigentlich schien es unmöglich, dass ein Gott einen Sterblichen zum Freund haben konnte, sinnierte Itiamun, während er schweigend den staubigen Weg entlangschritt, doch sein Vater hatte gleich zwei Männern diese Ehre erwiesen. Der eine war Nesamun und der andere Wesir Nehi.
Neben dem von Ochsen gezogenen Schlitten, auf dem der Sarg des Königs stand, gingen die Priester, die ab dem heutigen Tag für das Zeremoniell zur Erhaltung des Ka des toten Pharaos zuständig waren. Sie benetzten den Weg mit Milch, sprachen Gebete und stimmten heilige Gesänge an. Dem Schlitten mit der Mumie folgte die königliche Familie, allen voran die Große Königliche Gemahlin Nubchesbed, die an der Seite ihrer Tochter ging. Sie hatte den Kopf hoch erhoben, schien aber mit ihren Gedanken weit weg bei Ramses zu weilen.
Es folgten der Schlitten mit den vier Kanopen, die die Eingeweide des toten Herrschers beinhalteten, und die Schlitten mit dem Grabmobiliar, den Uschebtis, den Salben und Ölen, der Nahrung und Kleidung des Guten Gottes, die er für ein standesgemäßes Weiterleben in der anderen Welt benötigte. Den Abschluss bildeten Höflinge, hohe Beamte und die Konkubinen und Frauen aus Pharaos Harim.
Die Klageweiber, die für solche Anlässe ihre Dienste zur Verfügung stellten, streuten sich Sand auf den Kopf, schlugen sich auf die Brüste oder zerkratzten sie sich. Sie jammerten und wehklagten so laut, dass Itiamun froh war, als sie durch den engen Zugang zum Königstal schritten. Das Begräbnistal der Pharaonen war ihnen, wie so manch anderem aus der Prozession, verwehrt.
Wehmütig blickte Itiamun zum Himmel auf. Die Menschen weinten und trauerten hier unten auf der Erde, doch der Himmel war wie immer strahlend blau, und Re fuhr in seiner Barke dahin, so als wolle er sagen: Es ist kein Tag der Trauer, es ist ein Tag der Freude. Endlich kehrt mein geliebter Sohn zu mir zurück.
Bei diesem Gedanken wurde Itiamun leicht ums Herz. Sein Vater war nicht tot; er lebte jetzt in den Gefilden des Westens und schritt zusammen mit seinen Vorfahren an der Seite der Götter.
Sie hatten den Zugang zu Ramses’ Grab erreicht. Diener stellten Zelte und Sonnensegel für die königliche Familie und deren Gäste auf und bereiteten alles für den Begräbnisschmaus vor. Derweil wurde Ramses’ Sarg am Eingang zum Grab aufgerichtet und der Deckel geöffnet, damit zuvor die heiligen Riten vollzogen werden konnten.
Feierlich gruppierten sich die Priester und Trauergäste in gebührendem Abstand um den zu Osiris gewordenen Pharao. Itiamun trat vor und verbrannte Weihrauch vor der Mumie. Dann nahm er aus Nesamuns Hand den heiligen Dechsel, um die Augen, die Ohren, die Nase und den Mund des toten Königs zu öffnen, damit dieser in der anderen Welt wieder sehen, hören, riechen, sprechen sowie essen und trinken konnte. Die Priester murmelten die gesamte Zeit über Gebete, und Itiamun beweihräucherte erneut den mumifizierten Körper seines Vaters.
Nachdem das Ritual der Mundöffnung vollzogen war, setzten sich alle zum Essen nieder. Die Bestattung eines geliebten Verwandten oder Freundes musste gebührend gefeiert werden. Der Tote nahm daran teil, und die Lebenden teilten mit ihm Speis und Trank.
»Ich werde Ramses vermissen«, sagte Sethi bedrückt und leckte sich das Fett von den Fingern. »Er war nicht nur mein Bruder, er war ein Vaterersatz für mich.«
»Ich weiß«, erwiderte Itiamun. »Wir alle vermissen ihn. Doch er ist jetzt in einer anderen Welt, und wir dürfen nicht traurig sein.«
Bekümmert blickte Sethi zu seinem Neffen. »Ich bin froh, dass es wenigstens dich und Nubchesbed noch gibt. Anderenfalls käme ich mir ziemlich verloren vor.«
»Du solltest wieder heiraten«, empfahl Itiamun. »Du bist schon zu lange allein. Der Tod deiner Gemahlin liegt Jahre zurück. Suche dir endlich ein hübsches Mädchen und mache sie zu deiner Frau. An Angeboten mangelt es wohl kaum.«
Um Sethis Mund zuckte ein schelmisches Lächeln. Dann wurde er wieder ernst. »Ich kann mich einfach nicht entscheiden. Du weißt, ich stelle hohe Ansprüche, wenn es um eine Gemahlin geht.«
Wehmütig dachte er an seine verstorbene Frau zurück.
Knapp acht Jahre war es her, dass sie zu Osiris gegangen war und ihn mit der damals gerade einmal fünf Monate alten Tochter zurückgelassen
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