Das Geschenk des Osiris
Beiden Länder, Ramses VI., von Amun geliebt, in seiner wunderschönen Königsstadt Per-Ramses alles Irdische hinter sich und begab sich, von Anubis geführt, vor Osiris, den Obersten Richter und Herrscher über das Totenreich, um sein Herz gegen die Feder der Göttin Maat wiegen zu lassen. Osiris sollte zusammen mit dem Rat der Ewigwährenden darüber befinden, ob Ramses VI. würdig war, zu seinem himmlischen Vater Amun-Re in dessen Barke zu steigen.
NEUN
Das ganze Land fiel in eine siebzig Tage andauernde Trauer, in der das öffentliche Leben ruhte.
Netjer Nefer
, der Gute Gott, so hatten seine Untertanen den König genannt, hinterließ eine Leere in den von den Göttern geliebten Beiden Ländern, wie sie seit seinem Erscheinen vor acht Jahren nicht mehr vorgekommen war. Das Schwarze und das Rote Land verfielen ins Chaos.
Itiamun schloss sich die ganze Nacht in seinem Schlafgemach ein und befahl, dass niemand ihn stören sollte. Als er mit sich und seinem Schmerz um den Verlust des Vaters alleine war, setzte er sich mit angezogenen Beinen auf den gefliesten Boden und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte seinen Vater, den mächtigen Pharao, geliebt und gefürchtet, und nun war er von ihm gegangen und hatte ihm die Bürde des Herrschens auferlegt. Würde er dieser Aufgabe überhaupt gewachsen sein?
Ramses hatte ihn schon sehr früh mit allen Feinheiten des Regierens vertraut gemacht, nachdem Itiamuns älterer Bruder bei einem Feldzug ums Leben gekommen war. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr war er auf seine zukünftige Aufgabe vorbereitet worden, seit Ramses ’ sechstem Thronjubiläum saß er als Mitregent neben ihm. Reichte das aber aus, um so ein großes Land zu regieren?
»Ja«, sagte er sich. »Ich trage von nun an die Verantwortung für die Beiden Länder und für die Menschen unter der Barke des Re. Ich darf und werde nicht versagen. Das bin ich meiner Familie und meinen ruhmreichen Vorfahren schuldig.«
Er öffnete den Schrein, in dem sich das Bildnis seines Schutzgottes Amun befand, und begann für seinen Vater zu beten. Weit nach Mitternacht legte er sich aufs Bett, um noch ein paar Stunden zu ruhen, bevor er sich am Vormittag mit Nehi und den Generälen zu treffen gedachte. Es musste alles Notwendige veranlasst werden, um das Land vor dem Zugriff der Fremdvölker zu bewahren.
Sein Leibdiener weckte ihn eine Stunde vor Sonnenaufgang. Er kniete vor dem Bett seines Herrn und berührte mit der Stirn den morgendlich kühlen Boden.
»Steh auf, Juri!«, befahl Itiamun. »Bis jetzt bin ich noch nicht gekrönt.«
Er schwang sich aus dem Bett und ging ins Badehaus, wo bereits sein Badediener auf ihn wartete. Er trat auf den Badestein und ließ sich mit warmem Wasser übergießen. Dann wurde sein Körper mit Asche und Natron abgerieben und mit parfümiertem Wasser abgespült. Es wurden ihm kostbare Salben in die Haut massiert, und zum Schluss reinigte sich Itiamun den Mund mit Natron.
Erfrischt kehrte er zurück in sein Schlafgemach, wo sein Leibdiener ihn bereits erwartete, um ihm beim Ankleiden behilflich zu sein.
Juri hatte dieses seit seinem zwölften Lebensjahr getan, und Itiamun gedachte nicht, daran etwas zu ändern. Wenn er zum Pharao gekrönt war, würde er ihm den begehrten Posten des Hüters der königlichen Gewänder anvertrauen. Er sollte ihm auch fortan als persönlicher Diener zur Verfügung stehen, als Kammerherr Seiner Majestät.
Juri kam aus einer einfachen Familie aus Memphis. Sein Vater war bei einem Feldzug gegen die Libyer ums Leben gekommen, und der Witwe und ihren Kindern stand fortan eine lebenslange Versorgung durch das Königshaus zu. Juris Mutter hatte den Verlust ihres geliebten Manns nicht verwinden können und starb im Jahr darauf. Juri war damals fünf und sein Bruder sieben Jahre alt. Sein Bruder wurde als Diener in den Tempel des Ptah von Memphis gegeben, von wo er später nach Heliopolis wechselte, um ein Priesteramt im Dienste des Re zu versehen. Juri hingegen kam als Spielgefährte des Prinzen an den Königshof nach Per-Ramses. Er wurde zusammen mit Itiamun erzogen und war für den Prinzen nicht nur Leibdiener, sondern auch Kamerad.
»Soll ich die Schminkmeisterin hereinholen?«, erkundigte sich Juri höflich, doch Itiamun winkte ab.
»Es kann ruhig jeder sehen, dass ein zukünftiger Gott Gefühle wie Trauer und Schmerz kennt.« Juri war da zwar etwas anderer Meinung als sein Herr, wagte aber nicht, ihm diese mitzuteilen. »Ich
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