Das geschenkte Gesicht
spürte er einen Einstich … die Injektion, dachte er … und dann glitt er weg in Schwerelosigkeit. So muß das Sterben sein, dachte er noch. Es ist gar nicht so schlimm …
Der Verband war durchweicht. Die Sanitäter hoben Schwabe auf den frei gewordenen OP-Tisch. Auch eine Ordensschwester war jetzt zugegen, in einem weißen Gewand und einer weißen Gummischürze. Dr. Urban hatte das Zimmer verlassen. Er kümmerte sich jetzt im Verbandsraum I um die weniger schweren Fälle und schnauzte sie an, wenn sie sagten: »Bitte Vorsicht, Herr Oberarzt … es klebt doch alles fest …«
Langsam wickelte Lisa Mainetti den Verband ab. Die Ordensschwester und ein Sanitäter hielten Schwabe an den Schultern in schwebender Lage und unterstützten seinen Kopf.
Gleich werde ich sehen können, dachte er. Gleich wird die Binde von den Augen kommen, und ich werde zum erstenmal wieder die Sonne sehen, ein menschliches Gesicht … ein Gesicht …
Als die durchbluteten Lagen kamen, weichte Lisa Mainetti sie noch einmal ein und kontrollierte vorsichtig, ob die Flüssigkeit durchgedrungen war.
Ich werde sehen können, dachte Schwabe. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Ich werde feststellen, ob man mich belogen hat, ob ich meine Augen noch habe oder ob es nur leere Höhlen sind, aus denen die Tränen kommen. Wenn ich sehen kann, ist es ja gut. Mein Gott, dann ist ja alles nicht so schlimm. Wenn ich nur meine Augen habe … bitte, bitte … nur die Augen noch …
Lisa Mainetti nickte. Die blutigen Zellstofflagen waren aufgeweicht. Mit einem Ruck hob sie sie schnell ab …
2
Das Gesicht Schwabes lag frei vor Dr. Lisa Mainetti. Sie starrte auf das, was einmal ein Mensch gewesen war, und schluckte ein paarmal. Hinter ihr stand Professor Rusch, sie merkte es erst, als sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte.
Sie wußte, daß er sie in diesem Augenblick ansah. Seit zwei Jahren behandelte sie in Bernegg die Gesichtsverletzten, seit zwei Jahren stand sie dreimal in der Woche im Operationssaal und flickte die zerstörten Gesichter zurecht, schuf neue Unterkiefer, neue Nasen, neue Wangen und Kinne, neue Lippen und Stirnpartien. Sie verpflanzte Rollappen und gestielte Lappen, sie setzte Knochenspäne ein und rang in millimetergroßen Stücken dem Körper neues Lippenrot ab, sie hatte Fettgewebe zur Polsterung von Kinn und Wangen transplantiert. Aber immer war es ein Schock für sie gewesen, wenn die ›Neuen‹ kamen, und wenn sie blutige Höhlen sehen mußte, die einmal ein Gesicht waren, das lächeln konnte, das geliebt worden war, in dem sich die Seele spiegelte und Glück und Leid sich gleichermaßen eingezeichnet hatten.
So war es auch heute. Sie blickte in ein Gesicht, in dem nur noch die Augen standen, und etwas Dickes, violett Rotes schwamm in einer mit Blutklumpen angefüllten Höhle: die Zunge.
Lisa Mainetti biß die Zähne aufeinander. Dann hatte sie sich aber sofort wieder gefangen, sie legte beruhigend beide Hände auf die Brust Erich Schwabes.
»Sie bleiben auf meiner Station«, sagte sie, und eine merkwürdige mütterliche Zärtlichkeit war in ihrer Stimme. »Es ist alles halb so schlimm. Sie können mich sehen?«
Erich Schwabe nickte. Undeutlich, wie durch einen Schleiervorhang, nahm er das schmale Gesicht der Ärztin wahr und dahinter den blonden Kopf des Chefarztes. Er sah den Zipfel einer Schwesternhaube, und ganz in der Ferne einen weißen Schrank mit blitzenden Instrumenten.
Ich kann sehen, dachte er unendlich glücklich. Sie haben mich nicht belogen! Meine Augen leben! Nun ist wirklich alles nicht so schlimm … ein paar Narben im Gesicht, wen wird das stören? Ursula bestimmt nicht. Es gibt so viele Männer mit Narben … und bei den Akademikern heißt's sogar: Er ist interessant.
In seinem Kopf summte es. Die Schwerelosigkeit, die nach der Injektion seinen Körper wie auf einer Schaukel trug, flimmerte in seinen Augen und ließ die Konturen der Gestalten verschwimmen. Nicht ohnmächtig werden, dachte Schwabe. Nein, nicht weggehen aus diesem herrlichen Zustand, sehen zu können.
Dr. Mainetti nahm den Laufzettel, den der Sanitäter ihr hinreichte. Dann blickte sie wieder auf die blutverkrustete Fläche, in der einsam, als einziges Leben, die Augen standen, umgeben von dicken Säcken eines schon blaugelben Hämatoms.
»Sie sind verheiratet«, sagte Lisa Mainetti und gab den Zettel an den Sanitäter zurück. »Übermorgen, wenn wir uns hier eingelebt haben, werden wir Ihrer Frau schreiben, nicht
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