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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wahr?«
    Schwabe winkte mit der Hand ab. »Zuerst meiner Mutter, Frau Doktor«, sagte er.
    Professor Rusch und Lisa sahen auf die dick geschwollene Zunge, die sich zuckend hin und her bewegte. Dort, wo einmal die Lippen gewesen waren, zuckte das zerfetzte Fleisch. Er spricht, dachte Lisa, und plötzlich schauderte es sie. Und seine nicht mehr vorhandenen Lippen formten die Worte, aber es war nur ein Röcheln und Zischen, das aus der Mundhöhle quoll, ein tierhaftes Lautgeben, zu dem die Zunge den Takt schlug.
    Erich Schwabes Augen wurden weit. Jetzt, ohne Verband, hörte auch er die schrecklichen Töne. Er starrte den Chefarzt an, und plötzlich weinte er wieder hemmungslos wie ein Kind, bis ihn die Besinnung verließ.
    Lisa Mainetti säuberte die Wunden und legte dann neue Lagen Mull auf das zerstörte Gesicht. Sie machte einen Verband, der die Augen freiließ. Es war nur ein kleiner Sehschlitz, denn auch die Stirnpartie war wegrasiert worden bis auf den blanken Knochen.
    »Zimmer 3«, sagte sie, als man Schwabe zurück auf die Trage hob. Während er hinausgeschafft wurde, schob man einen neuen Verwundeten auf den OP-Tisch. Einen Kieferschußbruch mit zerfetztem Gaumen und halb abgerissener Zunge.
    »Da hast du aber noch einmal Glück gehabt, mein Junge«, sagte Professor Rusch und kontrollierte die Zerstörung der Knochen. »In ein paar Monaten kannst du wieder Eisbeine kauen …«
    In der Nacht noch wurden die wichtigsten Fälle geröntgt, die Platten entwickelt und zum Professor gebracht. Die Sanitäter wußten das. Bei Neuzugängen gab es keine Nachtruhe. »Sie haben für uns die Köpfe hingehalten!« schrie Rusch einmal, als sich die Schwestern beschwerten. »Ich kann erwarten, daß ihr dafür einmal eine Nacht opfert!«
    Der einzige, der sich störrisch zeigte, war Dr. Urban. Mißmutig saß er vor den Röntgenplatten, trank einen Cognac und hörte nur halb zu, was Rusch nach dem Studium der Aufnahmen anordnete.
    »Als ob die nicht einen Tag Zeit hätten«, brummte er und gähnte. »Nachher liegen sie doch jahrelang herum, bis ihre Visage gerichtet ist …«
    »Bei manchen gelingt es nie«, sagte Lisa Mainetti. »Es gibt Menschen, die haben von Geburt an kein Gesicht …«
    Wortlos erhob sich Dr. Urban und verließ das Chefzimmer. Professor Rusch wartete, bis er die sich schnell entfernenden Schritte auf dem Gang hörte.
    »Du machst so lange, bis er dich der Gestapo meldet«, sagte er.
    »Hast du Angst?« fragte Lisa zurück.
    »Ja«, sagte er ehrlich.
    »Aber wir haben den Krieg doch bald verloren.«
    »Bald! Ja!« Rusch atmete schwer. »Aber bis dahin … Manchmal kann ich nicht mehr, Lisa … manchmal denke ich …«
    Er verstummte, legte den Kopf zurück an die Sessellehne und bedeckte die Augen mit beiden Händen.
    Ganz still war es im Raum, so still, daß man deutlich das saugende Geräusch hörte, als Lisa Mainetti an ihrer Zigarette zog.
    Durch seine Sehschlitze erkannte Erich Schwabe, daß es Morgen war. Er lag in einem kleinen Zimmer, das Fenster war offen, und die Gardinen blähten sich im Luftzug, der in den Raum drang. Drei Blumentöpfe standen auf der hölzernen, weiß lackierten Fensterbank. Zwei Alpenveilchen und eine große Kaktee, die kleine Knospen angesetzt hatte.
    Schwabe bewegte vorsichtig den Kopf zur Seite und richtete sich auf. Er war allein im Zimmer. Ganz dicht hob er den linken Arm an die Sehschlitze des Verbandes und sah auf seine Armbanduhr. Sie tickte noch und zeigte die neunte Morgenstunde.
    Langsam hob er die Beine aus dem Bett, setzte sich auf. Sein Herz klopfte wie wahnsinnig. Als er glücklich stand, nach über einer Woche zum erstenmal wieder stand, zitterten ihm die Knie und knickten ein. Er mußte sich auf den Nachttisch stützen. Die ersten Schritte waren wie ein Taumeln, er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und tastete sich dann an der Wand entlang.
    Eine ungeheure Energie trieb ihn, ein Wille, der so übermächtig war, daß er die Schmerzen kaum merkte, die in seinem schwachen, pendelnden Kopf wieder aufstachen.
    Ich will wissen, wie ich aussehe! Dieser eine Gedanke beherrschte Schwabe. Irgendwo mußte hier doch ein Spiegel sein oder etwas anderes Blankes, in dem ich mich spiegeln kann.
    Als er an keiner der Wände einen Spiegel gefunden hatte, selbst nicht über dem Waschbecken, schwankte er zum Fenster. In einer Scheibe mußte er sich erkennen können …
    Aber auch das Fenster spiegelte nicht. Die Scheiben waren aus Milchglas. »Sie denken an

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