Das geschenkte Gesicht
Jahre alt, dachte er. Von Mitschuld kann man da nicht sprechen. Ihr Vater, ja. Und weil ihr Vater schuldig ist, muß auch sie … »So ein Mist«, sagte Braddock laut.
»Da kann ich Ihnen beipflichten, Major.«
Braddocks Kopf flog hoch. Der alte, abgerissene Mann stand im Zimmer und verbeugte sich.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihrem Selbstgespräch Beifall zolle«, sagte er. »Leider fehlt unserer Welt ein neuer Herkules, der diesen Augiasstall ausmistet.«
»Wer sind denn Sie?« fragte Braddock ungnädig. »Wenn Sie Hunger haben, wenden Sie sich an die deutschen Behörden.«
»Ich habe keinen Hunger. Ich habe nur einen väterlichen Wunsch.«
»Natürlich. Sonst ständen Sie nicht hier! Väterlicher Wunsch?« Braddock stützte den Kopf in die rechte Hand. »Sie haben einen Sohn oben im Schloß, im Lazarett? Einen Gesichtsverletzten?«
»Ja.« Der alte Mann hielt sich an der hohen Lehne des Lederstuhles fest. »Ich bin Thomas Bloch. Professor Thomas Bloch.«
Major Braddock schnellte hoch, als habe ihn ein Stachel getroffen. »Professor Bloch!« rief er. »Und das sagen Sie erst jetzt?« Er kam um den Schreibtisch herum und gab Bloch beide Hände. »Nehmen Sie Platz, ruhen Sie sich aus. Phillips – Whisky, Kaffee, was zu essen, was Kräftiges.« Der Sergeant rannte aus dem Zimmer. Braddock hielt Bloch seine Zigarettenpackung hin. »Rauchen Sie, Herr Professor?«
»Ja, schon.« Professor Bloch lächelte schwach. »Aber ich glaube, ich vertrage die starken amerikanischen Zigaretten nicht. Ich kippe vom Stuhl. Früher rauchte ich immer gern die Brissagozigarren. Wissen Sie, die mit dem Strohhalm im Mundstück. Früher – wie lange ist es her? Es ist wie das Blättern in einem Buch über die Geschichte der Vorzeit.«
Braddock setzte sich vor Bloch auf die Kante des Schreibtisches. »Sie wollen Ihren Sohn sprechen, nicht wahr? Natürlich ist das möglich. Unter der Hand natürlich. Wissen Sie, daß man Sie sucht? Ich habe eine Akte über Sie hier. Professor Rusch hat sie noch angelegt. Sie kennen Rusch?«
»Aber ja. Ein ehrenwerter Mann, ein blendender Chirurg. Ich habe ihm die Rettung meines Sohnes zu verdanken.«
»Er ist weg«, sagte Braddock.
»Weg? Wieso?«
»Im Nazilager in Darmstadt.«
»Rusch? Das ist doch wohl ein Witz oder ein fataler Irrtum.«
»Wenn sich das letztere herausstellt, ist's ein fataler Witz.«
»Dann lassen Sie uns jetzt schon zusammen bitter lachen, Major«, rief Professor Bloch. »Rusch ein Nazi? Ebensogut hätte man Sie einsperren können.«
Braddock hob die Schultern. »Ich habe nur einen Befehl des Hauptquartiers ausgeführt.«
»Und wieso besteht eine Akte über mich?« fragte Bloch.
»Professor Rusch hat uns berichtet, daß Sie von den Nazis verfolgt wurden.«
»Verfolgt? Nein.« Professor Bloch schüttelte den weißen, ausgehungerten Kopf. »Ich war nie in einem KZ, in keiner Gestapohaft.«
»Aber man hat Sie als Chefarzt Ihrer Klinik zwangsweise entlassen, Ihnen die private Praxis geschlossen und Sie ohne weiteres zur Fabrikarbeit eingezogen.«
»Das stimmt. Ich habe viele Benachteiligungen durch das sogenannte Dritte Reich erfahren. Auch meine Lehrbücher über die neuen Erkenntnisse der Psychiatrie durften nicht erscheinen, weil sie das Euthanasieprogramm gefährdeten. Aber ich war nie in einem KZ. Man hat mich nie geschlagen oder in den Gestapokellern gefoltert. Das sind die echten Verfolgten, die so etwas erleiden mußten.«
»Merkwürdig.« Braddock nahm seinen Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter die Tischkante. »Sie glauben nicht, wie viele Naziverfolgte es gibt, seitdem wir hier sind. Jeder, den ein Blockleiter wegen des rückständigen Parteibetrags scharf mahnte, betrachtet sich als verfolgt. Alle waren innerlich dagegen, wir haben plötzlich ein Volk von Gezwungenen, ein Millionenheer der stillen Gegner. Es ist ein phantastisches Rätsel, daß die NS-Idee nach diesen neuen Entdeckungen nur in den Hirnen einer Handvoll Irrer bestand. Das wäre doch ein Problem für einen Psychiater, was, Professor?«
Professor Bloch schüttelte wieder den Kopf. »Es ist gar kein so schwieriges Problem, Major. Es ist eben nur das allgemeine große Hosenscheißen einer von jeher trägen, denk- und konsequenzfaulen Masse Mensch.«
»Sehr gut.« Major Braddock lachte laut. Sergeant Phillips brachte ein Tablett mit Nescafé, Keksen, Fruchtstangen, zwei dick belegten Weißbrotschnitten und einer Flasche Whisky ins Zimmer. Braddock schob das Tablett hin. »Guten
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