Das geschenkte Gesicht
»Deinen Koller kannste beim Schrubben austoben.«
Walter Hertz riß sein Taschentuch aus der Hose und preßte es gegen seine eingedrückte Gesichtshälfte und das hängende Auge. Er stolperte neben Bloch her in die Schule, stieß mit den Füßen gegeneinander und wäre ein paarmal hingestürzt, wenn Bloch ihn nicht am Rock festgehalten hätte.
»Da, Klasse 2, du Hornochse«, sagte Bloch. »Hoffentlich haben die einen vernünftigen Besen da. Ich werde mir mal meine Klasse 1 ansehen.«
Walter Hertz zögerte. Dann richtete er sich auf, legte das Taschentuch über sein Gesicht, drückte es mit der flachen Hand an und stieß mit der linken Hand die Tür zur Klasse auf.
»Petra!« schrie er. »Petra!«
Fast im gleichen Augenblick ertönte in seinem Rücken, von der Tür der Klasse 1, ebenfalls ein Aufschrei.
»Vater! Vater!«
Dann klappten die Türen zu, und es war vollkommene Stille in den Räumen.
Major Braddock saß am Telefon und sprach mit Dr. Lisa Mainetti.
»Professor Bloch ist soeben hier aufgekreuzt«, sagte er fast gleichgültig. Er hörte, wie oben auf dem Schloß Dr. Mainetti tief Atem holte.
»Bloch? Mein Gott, darum haben Sie Kaspar Bloch heruntergeholt?«
»Yes.«
»Und Walter Hertz? Major, sagen Sie nur noch, seine kleine Petra ist auch da?«
»Genau das ist sie. Das liebe Kriegsverbrechertöchterlein von Bernegg.«
»Warum haben Sie das nicht gesagt? Ich hätte Walter Hertz erst verbunden und …«
»Warum immer die Menschen belügen und betrügen. Die Kleine soll ruhig sehen, wie er aussieht. Ein Fegefeuer ist doch dazu da, zu reinigen.«
Lisa Mainetti setzte sich. »Ich werde aus Ihnen nicht klug, Major. Einmal sind Sie eine befehlausführende Maschine, ein Roboter ohne Eigenleben. Und dann entdecke ich in Ihnen wieder einen fabelhaften Menschen.«
Braddock wölbte die Unterlippe vor. »Wir alle haben einen Januskopf, Miß Doktor. Das liegt in der menschlichen Struktur. Im übrigen habe ich einige Aussagen von Professor Bloch über Professor Rusch zu Protokoll genommen und an das Hauptquartier weitergegeben.«
»Was sagte Bloch über Ruschs Verhaftung?«
Braddock zögerte. Dann antwortete er unwillig: »Er war erstaunt.«
Lisa lächelte still. Sie kannte Bloch. Er hatte nie mit seiner Meinung zurückgehalten, früher nicht bei den Nazis, und er würde es heute auch nicht tun. Sie ahnte, was Bloch gesagt hatte, und es machte sie fast fröhlich, einen Menschen zu wissen, der auf der Seite Ruschs stand und erhaben war über allen Verdacht der Schönfärberei oder der Unobjektivität.
»Genügt es, um Rusch freizulassen?« fragte sie gespannt.
»Wohl kaum. Aber es kann die Nachprüfungen abkürzen.«
»Wie kann man bloß einem solchen Schwein wie Dr. Urban glauben? Einem Denunzianten, der selbst …«
Braddock klopfte gegen die Sprechmuschel, um Lisa zu unterbrechen.
»Ein altes Spiel, Miß Doktor. Kain erschlug Abel, und Jakob betrog Esau. Und waren doch alle Gottes Kinder.«
»Mögen Sie nicht Isaak sein!« sagte Lisa und hängte ein.
Major Braddock trank ein großes Glas Whisky. »Phantastisch«, sagte er, »wie in der Bibel alles stimmt.«
Während in der Schule in Bernegg vier glückliche Menschen nebeneinander saßen, bereitete Dr. Mainetti im OP 1 eine neue Operation vor. Sie hatte Dr. Red Stenton und Dr. Vohrer die Röntgenbilder gegeben, und während sie die Aufnahmen betrachteten und in Schulenglisch und holprigem Deutsch sich zu unterhalten versuchten, saß Dr. Mainetti in ihrem Zimmer und studierte noch einmal die Operationsmethode, die sie bei dieser Transplantation anwenden wollte. Sie hatte sie oft bei Professor Rusch gesehen, aber nie selbständig und allein ausgeführt: die von Rusch entdeckte Methode des ›Verlötens‹ von Knochen zur Vermeidung von Pseudoarthrosen.
Nun war Lisa allein auf sich gestellt. Niemand konnte ihr helfen. Dr. Vohrer war ein guter Zahnarzt und Kieferorthopäde, Dr. Stenton ein Allgemeinchirurg. Die Operationen Ruschs lagen nun ganz allein in Dr. Mainettis Händen, und keiner war da, der ihr die große Verantwortung, die sich daraus für sie ergab, abnehmen konnte.
Es war der Gefreite Christian Oster, der in diesen Minuten von Famulus Baumann für die Intubationsnarkose vorbereitet wurde. 24 Operationen hatten sein Gesicht leidlich wieder in eine menschliche Form gebracht. Zuletzt hatte Rusch, kurz vor seinem Abtransport in das Lager Darmstadt, einen Weichteillappen aus der Brusthaut formiert und eingepflanzt. Es war gut verheilt. Nun
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