Das geschenkte Gesicht
als Christian selbst schrieb: »Erschrick nicht, wenn ich einmal nach Hause komme. Ich sehe ganz anders aus, aber ich bin's wirklich …«, da hatte sie nur vor sich hingelacht und sich gesagt: Sieh an, jetzt macht er schon wieder dumme Witze. Als ob ich meinen Christian nicht erkennen würde.
Das war schon vor Monaten gewesen. Und nun war der Tag gekommen, ganz plötzlich, an dem Christian Oster zurückkehren sollte aus einem Schloß, hinter dessen Mauern sich das schauerlichste Erbe des Kriegs verbarg.
Auch Oster hatte von Würzburg, wie alle der Stube B/14, ein Telegramm nach Hause geschickt. »Ankomme heute 11.23 Hauptbahnhof. Christian.« Dann saß er in dem überfüllten Zug und ratterte durch die Schneelandschaft nach Norden. Und je näher er seiner Heimatstadt kam, um so mehr schnürte die Angst sein Herz ein. Über zwei Jahre ist es her, seit ich Susanne gesehen habe, dachte er. Zwei Jahre, in denen man aus mir einen anderen Menschen gemacht hat. Einen Menschen, dessen Vater das Skalpell und dessen Mutter Rollappen und Stiellappen aus Brust, Stirn und Oberschenkel waren.
Mit einer Stunde Verspätung rollte der Zug fauchend in die zerstörte Bahnhofshalle ein. Die verbogenen und zerrissenen Stahlträger wirkten gegen den Nachthimmel wie das Skelett eines zerfetzten Brustkorbes. Wenige trübe Lampen brannten auf dem Bahnsteig, über die Schneehaufen und die verharschten, ausgetretenen Pfade zum Ausgang. Ein paar Menschen standen frierend und mit zusammengezogenen Körpern in der Kälte und starrten dem Zug entgegen.
Christian Oster hockte am Abteilfenster und sah hinaus auf die näherkommende Menschengruppe. Dort ist sie, durchfuhr es ihn heiß. Dort, die kleine Frau in dem dicken Wollmantel und dem hochgeschlagenen Persianerkragen. Der Persianerkragen – er war ein Hochzeitsgeschenk ihrer Mutter, und er hatte ihr zu diesem Kragen zum ersten Weihnachtsfest in ihrer Ehe einen schwarzen Mantel gekauft. Susanne hatte den Kragen selbst daraufgenäht, und er hatte sich gefreut, wie stolz sie war, wenn die Frauen ihren Pelzkragen musterten und sie offen darum beneideten.
Der Zug hielt. Christian Oster sah, wie Susanne an der Wagenreihe entlangschaute, wie sie jeden musterte, der ausstieg, wie sie einem Soldaten entgegenlief, der mit dem Rücken zu ihr stand und wie sie enttäuscht umkehrte, als sie sah, daß es nicht ihr Christian war.
Oster stand im Gang, seitlich von der Tür, und wagte nicht, auszusteigen. Immer wieder strich er sich mit der Hand über das narbige, neue Gesicht. Als letzter kletterte er schließlich aus dem Wagen und sprang von der untersten Stufe in den Schnee. Er zog seinen schlaffen Rucksack nach, hängte ihn über den linken Arm und wandte sich Susanne zu, die noch immer den Zug entlangsah und suchte.
Einmal glitt ihr Blick auch über ihn, blieb kurz an ihm haften und irrte dann weiter.
In Oster stieg ein heißer Schrei empor, er brannte in der Kehle, trocknete den Gaumen aus und drückte wie eine stählerne Faust auf das Herz.
›Sie erkennt mich nicht‹, schrie es in ihm. ›Mein Gott, mein Gott – sie sieht mich an und erkennt mich nicht.‹
Die Wagen waren leer. Die wenigen Menschen hatten den Bahnsteig verlassen. Zwei Schaffner liefen an den Wagen entlang und warfen die Türen zu. Vom Zugende schrillte die Pfeife eines Rangierers. Nur Susanne Oster und Christian Oster standen noch im Schnee unter dem Eisengerippe der Bahnhofshalle und sahen sich stumm an.
Noch einmal blickte Susanne an dem Zug entlang. Sie wartete, bis er nach hinten zum Abstellgleis weggezogen wurde und hob dann frierend und resignierend die Schultern. Sie drückte den Persianerkragen gegen das Gesicht und kam zögernd die wenigen Schritte auf Christian Oster zu. In ihren verschreckten Augen glitzerten unterdrückte, in der scharfen Kälte beinahe kristallisierende Tränen.
»Verzeihen Sie«, sagte sie zu Christian Oster, »ist das der letzte Zug, der aus Würzburg kommt?«
In den Ohren Osters brauste und gellte es. Er starrte in Susannes Augen, und er sah, daß sie ihn bittend anblickten, doch ohne die geringste Regung des Erkennens. Ich bin es doch, wollte er schreien. Er wollte die Arme vorwerfen, Susanne an sich reißen, brüllen wollte er, bis das Herz aus der Kehle quoll: Ich bin es! Ich bin es! Ich bin es! Aber er blieb wie gelähmt stehen und schüttelte nur den Kopf.
»Keiner mehr?« sagte Susanne und wandte sich ab. »Danke schön. Dann wird er morgen kommen …«
Ein paar Schritte war sie
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