Das geschenkte Gesicht
offen. So schaffte sie fast ›neue‹ Fälle, um die sie Professor Rusch um Rat fragen wollte. Gegen Morgen erst legte sie sich hin und schlief bleiern bis gegen 10 Uhr. Dora Graff weckte sie nach langem Zögern.
»Dr. Vohrer und Dr. Stenton operieren schon«, sagte sie, als Lisa endlich aufwachte und sich betroffen umsah. »Sie wollten nicht, daß ich Sie weckte. Aber ich dachte –«
»Ich komme sofort!«
Lisa Mainetti sprang auf und rannte in das Badezimmer. Unter dem heißen Wasserstrahl der Brause drehte sie sich wohlig und ließ die Hitze in ihren Körper dringen.
Noch einen Tag, dachte sie, dann sehe ich Walter wieder.
Ob er sich sehr verändert hat?
Sie reckte den Kopf in die dampfenden Strahlen und prustete und ließ sich von dem heißen Wasser streicheln.
Zum erstenmal gab sie vor sich selbst zu, daß sie Sehnsucht nach seiner Umarmung hatte, und es war ein herrliches Gefühl, darauf zu hoffen.
In der Kommandantur des Lagers Darmstadt saß Dr. Lisa Mainetti einsam und mit gefalteten Händen in einem kahlen Zimmer, dessen einziger Schmuck eine an der Rückwand aufgespannte amerikanische Fahne war. Das Sternenbanner. Davor stand ein Tisch. Auf dem einzigen Stuhl saß Lisa. Sonst war der Raum leer.
Major Braddock hatte sie allein gelassen und war mit dem dicken Paket aus Röntgenplatten und Krankengeschichten irgendwo in den weitverzweigten Zimmern verschwunden. Dort saßen jetzt voraussichtlich einige Abwehrexperten und studierten die Papiere, sekundiert von Major James Braddock, der die Gefahrlosigkeit der Schriftstücke und Röntgenfilme immer wieder beteuerte.
Von dem großen Lager hatte Lisa auf der Hinfahrt kaum etwas gesehen. Ein Wall von hohem Stacheldraht, einige Wachtürme, viele Baracken, ein Gewimmel von braunen amerikanischen Uniformen und riesige Wagenkolonnen, die meistens von Negern gefahren wurden. Sie mußten drei Kontrollen passieren, bis sie vor dem Stellvertreter des Kommandanten standen. Es war ein sehr wortkarger, zugeknöpfter, jüngerer Offizier, der Lisa Mainetti ohne viel Worte in den kahlen Raum führen ließ und sie dort allein in eine Qual von Hoffnung und Angst stieß.
Auch Professor Rusch in Camp III erfuhr nichts von diesem Besuch. Er hatte dienstfrei und brauchte heute nicht in das Lagerlazarett. Dort arbeitete auch Dr. Fred Urban, ein bißchen weniger arrogant, aber immer noch eingepreßt in seinen unverlierbaren Charakter: Was auch immer im Lazarett geschah – er meldete es gewissenhaft weiter an die Lagerleitung. Zwar stand eines Morgens an sein Bett mit Schuhkrem gemalt: ›Du Schwein‹, aber darum kümmerte man sich weniger als um die Frage: Wie kommt die Schuhkrem in das Lager?
Für Professor Rusch hatte man sich eine besondere, ›weichmachende‹ Arbeit gedacht: Er mußte in dem Team Urbans arbeiten, nicht als Chef, sondern als Assistent. Der Teamchef war Dr. Urban. Zwar vermied es Urban immer, mit Rusch zusammenzustoßen. Er gab ihm weder Anweisungen, noch wehrte er sich, wenn Rusch ihn einfach zur Seite schob und an seiner Stelle operierte – aber allein die Gegenwart Urbans war Rusch eine Qual, und Urban spürte es und beobachtete Rusch wie eine Katze die Maus.
An diesem Tag saß Rusch vor einer Waschschüssel und wusch sein altes Hemd. Er hatte einen Seifenrest aus dem Lazarett mitgebracht – und dieses winzige Stückchen Seife wanderte nun von Hand zu Hand und erzeugte herrlichen Schaum, in dem Hemden, Unterhosen, Taschentücher und Strümpfe gewaschen wurden. Das gebrauchte Waschwasser wurde dann weiterverkauft, für ein paar Zigaretten, für ein paar Kekse, bis die Lauge schwarz war und in die Latrine gegossen wurde.
»Mitkommen zum Kommandanten!« sagte ein junger GI zu Professor Rusch, als er gerade sein Hemd zum Trocknen aufhängen wollte. Rusch hob die Schultern und zeigte auf das nasse, tropfende Wäschestück.
»Wie?« fragte er. »Ich habe nur das eine Hemd! Ich kann doch nicht …«
»Let's go«, sagte der junge Soldat und winkte energisch.
»Aber ich kann doch nicht mit nacktem Oberkörper zum Kommandanten!«
»Schnell, schnell!« rief der Soldat ungeduldig.
Professor Rusch hob noch mal resignierend die Schultern. Er zog seine Jacke über, schlug die Revers und den Kragen hoch, hielt sie mit beiden Händen vor der Brust zu und folgte dem GI durch die verschneiten Campgassen zur Kommandantur. Dort stand er in dem langen Flur, lehnte sich an die warme Holzwand und strich sich mit gespreizten Fingern mehrmals durch die Haare, um
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