Das geschenkte Gesicht
Möbelfabrik. Aber in dem kleinen Haus am Rande der Stadt schliefen die Probleme nur und wurden nicht so einfach gelöst wie auf der Arbeitsstelle. Hier war man unter Männern. In dem Haus aber saß eine Frau, und je näher der Zeiger der Uhr auf die Abendstunde rückte, um so fester zog sich um ihr Herz eine eiserne Klammer aus Angst und Verzweiflung. Wochenlang hatte sie sich Mühe gegeben, in dem neuen Gesicht Züge ihres Mannes zu entdecken. Es war unmöglich gewesen. Selbst seine Stimme hatte einen anderen Klang bekommen, eine näselnde Färbung der Worte. Man hatte ihm ja eine andere Nase geben müssen, einen neuen Unterkiefer, eine Zahnprothese, neue Lippen, und ein Teil der Zungenspitze war abgerissen worden. Wenn er sich unbeobachtet über die schartigen Lippen leckte, sah es aus wie das Züngeln einer Schlange. Es war für Susanne Oster gräßlich, dies zu sehen, und es war vor allem undenkbar, bei einem Kusse diese Zunge an ihren Lippen zu spüren. Allein der Gedanke entsetzte sie.
Das grauenvollste aber waren die Abende und Nächte. Sie saßen dann nebeneinander oder voreinander am Radio oder lasen, und nachts lagen sie wie hölzerne Pfosten nebeneinander, und keiner wagte es, den anderen zu berühren. Sie zogen sich sogar getrennt aus. Meistens lag Susanne schon im Bett, wenn Christian von seinem abendlichen Rundgang durch das Haus zurückkehrte und sich im Badezimmer auszog.
In einer Nacht geschah es dann. Susanne Oster wachte auf, weil ein Lichtschein sie blendete und schneidende Kälte durch ihren Körper rann. Sie schlug die Augen auf und sah das fremde Gesicht ihres Mannes dicht über sich. Das Licht der Nachttischlampe fiel auf ihren Körper. Christian Oster hatte die Steppdecke weggezogen und ihr das Nachthemd über die Brust hochgestreift. Nackt lag Susanne vor ihm, und die Kälte glitt über ihre Haut und ließ ihren Körper leicht vibrieren.
Oster kniete neben ihr. Auch er war nackt, und in seinen Augen lag eine solche Panik, ein solch schreiender Hunger, daß Susanne die Knie anzog und versuchte, das Nachthemd über ihren Leib zurückzustreifen.
Mit hartem Griff hielt Oster ihre Hand fest.
»Nein!« sagte er heiser.
»Christian –«, Susannes Augen weiteten sich voller Angst. »Was soll das? Ich bitte dich. – Bitte, bitte …«
»Über zwei Jahre habe ich gewartet und von diesem Augenblick geträumt. Fünfundvierzigmal bin ich operiert worden, um ein Gesicht zu bekommen. Es war alles umsonst.«
»Christian – du mußt mir Zeit lassen. Versteh mich doch. Es ist mir – es ist …«
»Ich bin ein fremder Mann, nicht wahr?« Christian Oster drückte ihre Hände zur Seite, dann ergriff er das Nachthemd und riß es ihr mit einem Ruck vom Körper. »Gut also – nimm diesen Fremden!«
»Ich kann nicht …«, stammelte sie. »Bitte, bitte …«
»Für wen willst du treu bleiben?« fragte Oster gepreßt. Er legte seine Hände auf ihre Brust und krallte die Finger in ihr kaltes, glattes Fleisch. »Für diesen Christian Oster? Der ist doch tot. Der kommt nie wieder. Nie wieder, hörst du? Der liegt in Rußland. Auf dem Rücken liegt er, und während ihn seine Kameraden in einer Zeltplane wegtragen, schreit er immer: Erschießt mich doch. Erschießt mich doch. Weg ist er, dieser Oster, einfach weg. Und nun ist ein anderer Mann da, und du liegst neben ihm, nackt, und auch er ist nackt. Und er will dich. Hörst du – er will dich. Ich will dich!«
»Christian«, schrie sie und stemmte die Fäuste gegen seine Brust. Sie trat um sich, wehrte sich verzweifelt.
»Ich bin nicht mehr Christian«, brüllte Oster. »Ich bin irgendein Mann, irgendeiner. Ein Mann – ein Mann …« Er preßte seinen Kopf auf den ihren und warf sich auf ihren kalten Leib, der sich unter ihm aufbäumte und sich wegzurollen versuchte. »Ich betrüge mich mit mir selbst«, stöhnte er heiser. »Ich vergewaltige meine eigene Frau. Nur weil ich ein anderes Gesicht habe. Ein anderes Gesicht. Kann ich dafür – kann ich denn dafür? Du – du …«
Er küßte sie. Die Zunge, dachte sie, da ist diese Schlangenzunge. Sie preßte die Zähne zusammen, aber er drängte sie auseinander und vergrub sich in ihrem Mund. Ekel schüttelte sie, Brechreiz würgte in ihrer Kehle. Sie schrie und stöhnte und kratzte ihm den ganzen Rücken auf, bis sie das Blut klebrig an ihren Fingern spürte und die Fetzen seiner Haut unter ihren Nägeln.
»Ich kann nicht – ich kann nicht …«, schrie sie heiser und stieß mit den Knien nach ihm.
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