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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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dich mit 'm Wagen ab. Ehrenwort.«
    Am nächsten Tag fuhr Erich Schwabe nach Bernegg. Alle begleiteten ihn zum Zug. Sie winkten mit beiden Armen, als der Zug aus der Bahnhofshalle rauchte. Ursula lief neben dem Fenster her, so gut sie es noch konnte mit ihrem schweren Leib.
    »Schreib mir sofort, Erich«, rief sie keuchend und blieb stehen, weil das Kind in ihr zuckte und trat und ihr fast das Herz abdrückte. »Und erzähl alles. Und hab keine Angst. Es wird alles gut gehen. Es wird alles – gut – gehen.«
    Karlheinz Petsch stand neben ihr, als der Zug aus der Halle hinaus in den schneeigen Tag stampfte. Auch er winkte und legte plötzlich den Arm um Ursulas schmale Schulter.
    »Laß das!« zischte sie wütend.
    »Ich bin jetzt für dich verantwortlich, Mädchen.«
    »Bis er zurückkommt, lass' ich dich nicht mehr in die Wohnung.«
    »Das wird er dir übelnehmen. Er hat extra zu mir gesagt: ›Sorg für Uschi wie ein Bruder.‹«
    Sie schüttelte seine Hand ab und trat zwei Schritte von ihm weg. Frau Hedwig beobachtete es und biß sich auf die Unterlippe. Aber sie sagte oder unternahm nichts. Was sollte sie auch tun? Es war ein verfahrener, im Schlamm steckengebliebener Karren, und sie fühlte sich viel zu schwach, um ihn wieder herauszuziehen.
    In seinem Abteil setzte sich Erich Schwabe still in seine Ecke, nachdem der Bahnhof im Morgendunst verschwunden war. Er fühlte die Blicke seiner Mitreisenden auf sich liegen wie klebrige Finger, die schamlos und ohne jegliche Rücksichtnahme sein zerstörtes Gesicht abtasteten.
    »In Rußland passiert?« fragte ein Mann ihm gegenüber.
    Schwabe zuckte zusammen.
    »Ja«, antwortete er leise.
    »Ihre Frau? Die Blonde?«
    »Ja.«
    »Eine tapfere Frau, nicht wahr?«
    »Warum?«
    Er bekam keine Antwort. Er las sie in den Blicken der Mitreisenden. Blicke voller Grauen, verstecktem Ekel, Neugier und unterdrücktem Abscheu. Und Blicke voll triefendem Mitleid. Und plötzlich erkannte er die Ungeheuerlichkeit: Ursula war in diesen ihn anstarrenden Augen tapfer, weil sie ihn liebte – ihn, den Menschen ohne Gesicht.
    »Wird – wird das wieder besser?« fragte eine junge Frau, die an der Tür saß.
    »Nein«, sagte Schwabe laut und grob. Die Reisenden zuckten zusammen.
    »Aber die Kunst der Ärzte …« Der Mann ihm gegenüber hob wie dozierend die Hand. »Ich habe da einmal irgendwo gelesen – aber vielleicht war's nur ein Roman und die Phantasie eines Schriftstellers.«
    »Können Sie keine Maske tragen?« Eine Frau mit dicker Hornbrille sah Schwabe interessiert an. »Im Mittelalter hatte man so etwas. Wenn ein Gesicht von Lepra oder Pocken zerfressen war, trug man damals Masken aus weichem Leder. Bei unserer heutigen Wissenschaft wäre es doch möglich.«
    Erich Schwabe erhob sich und ging hinaus auf den Gang. Dort lehnte er sich gegen die Scheibe und starrte hinaus in die vorbeifliegende, tief in den Schnee gebettete Landschaft des Westerwalds.
    Hinter seinem Rücken hörte er immer lauter werdende, diskutierende Stimmen. Seine Mitreisenden stritten sich, ob die Ledermasken im Mittelalter auch hygienisch gewesen waren.
    »Wenn man sie von innen puderte«, rief die gelehrte Dame mit der dicken Brille. Erich Schwabe tastete sich den Gang entlang und schloß sich in dem kleinen Zugklosett ein.
    Dort saß er, stützte die Arme auf das schmutzige Waschbecken und starrte gegen die Milchglasscheibe.
    Wie in Bernegg, dachte er. Milchglas, das nicht spiegelt. Und allein in einem Zimmer. – Ganz allein.
    Wie schön das ist.
    In dem kleinen Haus des wiedereingestellten Leiters des Lohnbüros der Möbelfabrik Berger, Christian Oster, war nach den anfänglichen Unsicherheiten der Friede eingekehrt. Aber es war ein trügerischer Friede, dieses Ansiedeln zweier menschlicher Seelen auf einem vulkanischen Boden, der so dünn war, daß man das Brodeln unter den Füßen zu hören meinte.
    Christian Oster, der Mann mit dem neuen Gesicht, an dem nur noch die Augen und das Haar an den alten Christian Oster erinnerten, ging seiner Arbeit so fleißig und gewissenhaft wie früher nach. Die ihn von vorher kannten, vermieden es, von den ›alten Zeiten‹ zu sprechen, und als immer neue Heimkehrer kamen und den alten Arbeitsplatz einnahmen, hatte es Herr Berger selbst übernommen, jedem von weitem Christian Oster zu zeigen und zu sagen: »Das ist er. Tut so, als habe er sich nur wenig verändert. Auch wenn Sie es nicht glauben wollen: Es stimmt. Er ist Oster.«
    Soweit ging alles gut in der

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