Das geschenkte Gesicht
zu ihm hin und zog die etwas verrutschte Decke hinauf bis zum Kinn.
»Einer von uns muß abwechselnd Wache halten«, sagte er, als die anderen in den Betten lagen und Feininger dumpf brummte: »Ich verlang' morgen mehr Soda ins Fressen.« Fritz Adam winkte energisch ab. »Der springt uns aus dem Fenster, wenn er wach wird …«
Sie waren gerade dabei, die Wachen auszulosen, als Schwester Dora Graff ins Zimmer kam. Sie hatte vier Stunden geschlafen und von dem dicken Verwaltungs-Oberstabsarzt eine Sonderzuteilung erhalten: Ein viertel Pfund Gehacktes, zwei Bouillonwürfel für eine Suppe und ein Klümpchen Butter. Das wichtigste aber waren Kaffeebohnen. Eine kleine Tasse voll. Sie rochen schon etwas muffig, aber sie gaben noch eine Kanne guten Kaffee ab, deren Duft sogar die Ordensschwestern anlockte.
»Ins Bett, marsch!« sagte Dora Graff und zog sich einen Stuhl neben das Bett Schwabes. »Und das Licht aus!«
»Jawoll, Püppchen!« sagte Feininger und schnaufte wieder. »Wenn i heut nacht seufz', denk' i an di.«
Der Berliner knipste das Licht aus. Auf nackten Sohlen tappte er zurück zu seinem Bett.
»Wenn Se schlafen wollen, Schwester, ick hab' noch Platz im Bett.«
Dora Graff lächelte vor sich hin. Sie legte eine Taschenlampe auf den Nachttisch und stellte den Strahl so, daß er von der Wand reflektiert wurde. In diesem schwachen Licht las sie einen Roman und warf ab und zu einen Blick auf Schwabe.
In der anderen Ecke begann Feininger laut zu schnarchen. Auch die ruhigen Atemzüge der anderen verrieten, daß sie schliefen. Nur Adam lag noch wach und sah aus seiner schützenden Dunkelheit hinüber zu Dora Graff. Ihr blondes Haar, das unter der kleinen, weißen Schwesternhaube hervorsah, leuchtete wie ein Goldreif im schwachen Schein der Taschenlampe. Das schöne, runde Gesicht hatte die junge Schwester im Widerschein der Lampe tief über die Buchseiten geneigt, um in der kargen Beleuchtung lesen zu können.
Wie das Gemälde eines alten Meisters, sinnierte Adam. Er nagte an der Unterlippe und dachte an eine Wohnung in Braunschweig. Ein großes Haus in einem Park. Ein schlankes, weißblondes Mädchen mit großen Augen und einem verführerischen Mund. Tochter des Fabrikanten Wollenz, dreiundzwanzig Jahre alt und verheiratet mit dem Medizinstudenten Fritz Adam aus Heidelberg. Vor einem Jahr war es gewesen. Ganz plötzlich, in einem Urlaub bei seinem Onkel. Eine Kriegstrauung, ein paar verliebte Nächte, ein seliger Traum vom Glück, und schon der Abschied. Und dann hinter Minsk eine Granate mitten in den Hauptverbandsplatz. Neununddreißig Tote und siebenundzwanzig Verletzte, darunter der Medizinstudent Fritz Adam, dem ein glühender Granatsplitter das Ohr, die Wange und die Nase wegrasiert hatte.
Seitdem hatte er Irene Adam, geborene Wollenz, nicht wiedergesehen. Sie wußte gar nicht, daß er auf Schloß Bernegg lag. Er hatte nicht mehr geschrieben. Ihre Briefe, die man ihm von der alten Feldpostnummerstelle nachschickte, zerriß er ungelesen und warf sie in das Klo. Er wollte nichts mehr wissen von dem Glück außerhalb der hohen Mauern Berneggs. Erst wollte er sein Gesicht wiederhaben. Welch ein Sinn lag darin, Irene nach Bernegg kommen zu lassen und ihr die Fratze des Krieges im zerstörten Gesicht ihres Mannes zu zeigen? Sie lebte in der elterlichen Villa und mußte glauben, er sei vermißt.
Fritz Adam sah hinüber auf den gesenkten Kopf Dora Graffs und die goldblonden Haare unter der weißen Haube. Wie nötig haben wir eine Frau, dachte er. Wie könnte sie uns hinweghelfen über die nach Antwort flehenden Fragen, über die seelischen Aufschreie, die uns innerlich zerreißen, über das Grauen der Unabwendbarkeit, in das man uns gestoßen hat. Wie herrlich wäre eine Frau …
Aber wir haben Angst.
Angst vor ihrem entsetzten Blick.
Angst vor ihrem Mitleid.
Angst vor ihrem versteckten Ekel.
Angst vor einer geheuchelten Liebe.
Fritz Adam drehte den Kopf zur Seite in das Kissen und schloß die Augen. Er wollte seine Schwäche nicht sichtbar werden lassen.
Er biß sich in die geballten Fäuste, und so schlief auch er endlich ein …
Das Telefon schrillte.
Lisa Mainetti schreckte hoch. Sie hatte sich nach einer anstrengenden Operation gerade hingelegt und schwebte in einem Zwischenstadium von Wachen und Träumen. Vier Stunden hatte sie neben Professor Rusch und Dr. Urban am ›Schrägen‹ unter der heißen OP-Lampe gestanden. Professor Rusch hatte einen neuen Unterkiefer gebildet, und solange er
Weitere Kostenlose Bücher