Das geschenkte Gesicht
wirklich Ihr Sohn … auch wenn Sie ihn nicht erkennen sollten … Vielleicht an den Augen, an den Händen, am Gang … eine Mutter erkennt an winzigen Kleinigkeiten ihren Sohn … Bitte, seien Sie so tapfer wie nie in Ihrem ganzen Leben … erkennen Sie ihn ohne Zögern, gehen Sie auf ihn zu, umarmen Sie ihn, küssen Sie ihn … drücken Sie ihn an sich und sagen Sie ihm die größte Lüge Ihres Lebens: Du hast dich kaum verändert, mein Junge … Wenn Sie das können, Frau Schwabe, hilft es mehr als zwanzig Operationen …«
»Ist … ist es denn so schlimm … Frau Doktor …«, stammelte Frau Schwabe. »Er schrieb doch, nur ein paar Narben …«
»Um Sie zu beruhigen, schrieb er das. Es sind nicht nur ein paar Narben.«
»Hat … hat er keine Nase mehr …«
»Nein …«
»Und … und die Ohren …«
»Ein Ohr fehlt. Das linke.«
»Und … was sonst …« Frau Schwabes Augen flimmerten. Lautlos rannen aus ihnen dicke Tränen und rollten über das bleiche, runzelige Gesicht. »Die Augen hat er noch … nicht wahr …«
»Ja …« Lisa Mainetti sah auf ihre Hände. Es mußte gesagt werden, es gab keine andere Wahl. »Sie sind das, was ihm geblieben ist. Alles andere ist … anders … wird neu … ist im neuen Werden … eine Wiedergeburt des Gesichts …«
»Er … er hat überhaupt kein Gesicht mehr …«, stammelte Frau Schwabe.
Sie sprach aus, was sich Lisa scheute zu sagen. Stumm nickte sie und vermied es, die Mutter anzusehen. Hochaufgerichtet saß Frau Schwabe auf dem Bett. Sie hob den Arm und wischte sich mit dem Ärmel ihres Mantels über das Gesicht und die Augen. Nun, da sie wußte, was aus Erich geworden war, wurde sie merkwürdig ruhig und gefaßt.
»Ich möchte ihn sehen, so, wie er ist, Frau Doktor«, sagte sie. »Und Sie brauchen mir nicht zu sagen, daß ich ihn in den Arm nehmen soll … Er ist doch immer noch mein Sohn, mein kleiner Erich …«
Es klopfte an der Tür. Lisa fuhr auf, Frau Schwabe erhob sich langsam.
»Keine Angst«, sagte sie, als sie sah, wie Lisa zögerte, »Herein!« zu rufen. »Ich bin stark genug. Ich habe schon verkohlte Leichen aus den Trümmern gezogen …«
Lisa Mainetti ging an die Tür und öffnete sie einen Spalt. Draußen auf dem Gang standen Schwester Dora Graff und Erich Schwabe. Man hatte sein Gesicht, so gut es ging, ›hergerichtet‹. Mullpacken und Leukoplast bedeckten die Gesichtsteile, die noch erneuert werden mußten, der nachgewachsene Rollappen zog sich wie eine fleischige Gurke am linken Wangenteil entlang. Die Nase war abgedeckt. Nur die schreckliche Mundhöhle mußte frei bleiben, dieses Loch ohne Lippen und Form, in der wie eine rote Schlange sich die Zunge bewegte. Die Augen Schwabes sahen Lisa Mainetti starr an. Panische Angst schrie aus ihnen. Sie nickte ihm aufmunternd zu und öffnete die Tür ganz. Hinter ihr stand hochaufgerichtet Frau Schwabe, mit vorgestreckten Händen, bereit, den Sohn zu umarmen.
»Kommen Sie«, sagte Lisa mit bewußt harter Stimme.
Sie trat zur Seite, ließ Erich Schwabe in das Zimmer und schloß schnell hinter ihm die Tür.
»Bleiben Sie immer in der Nähe«, wies sie draußen Dora Graff an. »Und wenn Frau Schwabe gehen will, rufen Sie mich. Ich bin beim Chef.«
Sie lauschte zur Tür hin, aber im Zimmer war alles still, als sei niemand im Raum.
Erich Schwabe stand an der Tür und drückte die Handflächen hinter sich an das lackierte Holz.
Frau Schwabe starrte ihren Sohn an, und sie dachte an die Worte Lisa Mainettis: Nur an den Augen werden Sie ihn erkennen … aber bitte, bitte zeigen Sie es ihm nicht …
Als ihr Sohn hereingekommen war, hatte sein Anblick ihr Herz wie mit einem glühenden Messer durchschnitten. Es war ihr, als müsse sie umfallen und sterben vor Entsetzen. Wie ein rasender Film jagten die vergangenen Jahre an ihr vorbei … die Geburt, das kleine, schreiende Bündel im Körbchen, der tapsige, weißblonde Zwerg, der die ersten Schritte versucht, der goldgelockte, fröhliche Junge, der am Aachener Weiher im Sandkasten spielte, der Schulanfänger mit der großen Schultüte im Arm, der Kommunikant im blauen Anzug, der lustige Lehrling in der Glaserei, der verliebte, plötzlich in Geheimnissen lebende Jüngling, der glückliche, strahlende Bräutigam, der siebenmal verwundete Soldat … und immer war ein Lachen in seinem Gesicht, war Lebensfreude in seinen Augen gewesen, war er wie ein Spiegel der Jugend, bei dessen Anblick man selbst fröhlich sein mußte.
»Mein Junge …«, sagte Frau
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