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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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aneinander, daß die Knöchel weiß wurden.
    »Sie mögen recht haben, Kollega, wenn Sie mich verachten«, sagte er leise. »Ich bin sogar bereit, diese Verachtung von Ihnen unter uns zu schlucken … es hört uns niemand, und wer uns beobachtet, glaubt, daß wir uns über medizinische Themen unterhalten. Aber –«
    Seine Stimme dehnte sich, und sein Kopf neigte sich vor. Er war jetzt ganz nahe vor ihr, und während er sprach, roch sie in seinem Atem einen leichten Alkoholdunst. Wenn er kein M hat, säuft er, dachte sie, und Ekel kam in ihr hoch. Und dann lutscht er Pfefferminztabletten, damit man es nicht riecht.
    »Was aber?« fragte sie und nahm ihren Kopf etwas zurück.
    »Sie glauben, mich in der Hand zu haben, Lisa. Es ist mir jetzt auch erklärlich, warum Sie sich so gegen mich benehmen. Aber Sie täuschen sich. Ich habe helle Augen … auch ohne Morphium. Ich sehe, was auf den Stationen vorgeht, wie dort ein defätistischer Geist geduldet, ja geradezu kultiviert wird. Ich weiß, daß Sie und Professor Rusch bei Inspektionen einige Fälle in den Luftschutzbunker stecken, damit sie nicht gesehen werden und länger im Lazarett bleiben. Vor allem aber kenne ich Ihre und des Chefs Einstellung zu all den brennenden Problemen unseres Reichs und …«
    »Welch ein Schwein sind Sie doch!« sagte Lisa laut. Es war ihr, als falle alle Angst von ihr ab, als könne sie plötzlich freier atmen und sich ungezwungener bewegen. Ihre Stimme hob sich, und es war ihr gar nicht bewußt, daß sie auf einmal schrie, frei von allen Hemmungen. »Haben Sie nicht genug Leid gesehen, Sie Durchhalte-Idiot?! Genügt es Ihnen nicht, daß auf allen Seiten Millionen gefallen, daß unsere Städte nur noch rauchende Trümmerhaufen sind, daß in Ostdeutschland der Russe und in Westdeutschland der Amerikaner steht? Ist es nicht genug, daß Millionen Krüppel herumlaufen als Erbe dieses politischen Wahnsinns? Wie können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, hier von Defätismus zu sprechen? Wollen Sie nicht erkennen, wohin wir steuern?«
    »Warten Sie die Wunderwaffen ab …«, sagte Urban kalt.
    »Die Wunderwaffen der Nazis waren die großen Schnauzen! Und selbst die sind jetzt sprachlos … mit einigen Ausnahmen, zu denen Sie gehören.«
    Dr. Urban steckte die Hände in die Hosentaschen. Er sah selbstzufrieden, ja fast satt aus.
    »Das genügt, Kollega …«
    Lisa Mainetti warf den Kopf hoch. Nach dem Ausbruch kam die Ernüchterung. Mein Gott, dachte sie, was habe ich alles gesagt!
    »Was heißt das?« fragte sie rauh.
    »Ärzte sollten auch gute Rechner sein«, sagte Dr. Urban sarkastisch. »Zählen wir also zusammen: Der Selbstmordversuch dieses Schwabe – dafür sind Sie verantwortlich. Er gehört zu Ihrer Station.«
    »Machen Sie sich nicht lächerlich!« Lisa winkte ab.
    Urbans Stimme blieb sicher und forsch. »Zählen wir weiter: Also – erstens Schwabe. Zweitens Ihre wehrkraftzersetzenden Äußerungen. Drittens das Verstecken bestimmter Verletzter vor Kommissionen. Viertens Ihre und des Chefs provokatorische Art, grundsätzlich nur mit ›Guten Morgen!‹ zu grüßen statt mit dem Deutschen Gruß. Und ferner ist mir eine Äußerung Professor Ruschs bekannt, die etwa so lautet: ›Wer in meinem Lazarett kv. wird, bestimme ich! Die Jungs haben genug durchgemacht und sollen die paar Monate bis zum Zusammenbruch hier bleiben …!‹ Merken Sie wohl: ›Zusammenbruch‹, sagte er! Was, glauben Sie, passiert, wenn ich diesen einzigen Ausdruck der Gestapo melde …«
    Lisa senkte den Kopf. Plötzlich legte sich wieder die kalte Angst über ihr Herz. Aber es war nicht die Angst um ihr eigenes Schicksal, sondern die schmerzhafte Furcht, Walter Rusch einem gnadenlosen politischen Irrsinn ausgeliefert zu sehen.
    »Und was, glauben Sie, passiert, wenn ich Sie wegen Morphiumdiebstahls anzeige?« sagte Lisa kalt.
    Auf Dr. Urbans Stirn erschienen kleine Schweißperlen. Die Auseinandersetzung war zu groß für ihn. Sein Körper schrie nach dem stimulierenden Gift.
    »Es ist ein Kreis ohne Ausweg, Kollega. Sie haben mich in der Hand … ich habe Sie und Rusch in der Hand. Wir sind verkettet ineinander … und das Zerreißen dieser Kette trifft jeden von uns. Ich könnte Sie bei der Gestapo anzeigen, und keiner gäbe mehr einen Pfennig für Ihren Kopf. Das wissen Sie genauso wie ich. Und sie können mich in die Pfanne hauen … ich würde an die Front kommen und sicherlich fallen.« Er wischte mit zitternden Händen den über seine Augen rinnenden

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