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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Warum soll ich nicht stark genug sein, ihn anzusehen, so wie er jetzt ist? Ich bin kein Kind mehr, ich bin doch seine Frau, und ich weiß, wie er ausgesehen hat, dort steht ja sein Bild. Und einmal wird er wieder aussehen wie die anderen Menschen auch.
    Sie lauschte nach oben. Die Sirenen gellten. Es hatte nichts Erschreckendes mehr. Im Gegenteil, wenn sie einen Tag nicht heulten, war man verwundert. Oft überflogen die Geschwader die Stadt auch nur oder kamen von anderen Zielen zurück und warfen nur noch vereinzelt Bomben ab. Ballast, den sie nicht wieder mit nach England zurücknehmen wollten. Übriggebliebene Bomben, die die Trümmer noch einmal umpflügten wie ein Feld, auf dem der erste Pflug nicht alles Unkraut beseitigt hatte.
    Von den Stadträndern her hörte sie das Aufbellen der Flak. Die Erde zitterte leicht. Das ist weit weg, dachte Ursula. Aber sie drehte das Radio ab, um besser hören zu können. »Vom Himmel hoch, da komm' ich her …«, sang gerade wie zum Hohn irgendein Chor.
    Der Lärm der Flak kam näher. Helles Motorengebrumm mischte sich dazwischen. In diesem Augenblick hörte Ursula klappernde Schritte die Kellertreppe hinabkommen, die Tür wurde aufgestoßen und ein Mann in der Uniform eines Fliegerfeldwebels stolperte in den Kellerraum.
    »Sie sind direkt über uns!« keuchte er und drückte die Tür hinter sich zu. Dann blickte er sich um und nahm die Mütze ab, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und lächelte etwas verlegen zu Ursula hinüber.
    »Sie sind allein hier, Fräulein?« Er horchte nach oben und nickte mehrmals. »Die ziehen vorbei. Gott sei Dank! Nicht mal Weihnachten hat man Ruhe. Ein Mistkrieg ist das!« Er kam schüchtern näher und sah den Tannenzweig, die drei Kerzen und das Bild Erich Schwabes. »Ihr Bräutigam, Fräulein?«
    »Mein Mann.«
    »Oh, Verzeihung. So ohne weiteres kann man das ja nicht sehen.«
    Der Fliegerfeldwebel setzte sich auf eine Kiste neben Ursula und starrte auf Schwabes Bild.
    »An der Front?« fragte er, als Ursula nichts sagte.
    »Nein. Im Lazarett.«
    »Verwundet? In Rußland?«
    »In Bernegg. Er hat eine Gesichtsverletzung. Seine Mutter ist jetzt bei ihm. Ich darf noch nicht zu ihm.«
    Der Feldwebel pfiff durch die Zähne. Er hatte ein sympathisches, ebenmäßiges Gesicht und schwarze Locken wie ein Südländer. Er war groß und breit und gesund wie ein Baum in gutem Boden.
    »Tja, das ist schlimm«, sagte er unbekümmert. »Wir hatten auch zwei bei uns. Aus einem brennenden Stuka haben wir die gezogen. Sie sahen aus wie Bratäpfel. Gott sei Dank sind sie beide gestorben.«
    Ursula überlief ein eiskalter Schauer. Sie senkte den Kopf und schielte zu dem Bild Erichs hinüber. Du lebst, dachte sie. Und wer weiß, wie du aussiehst … Mein Gott, mein Gott, laß ihn wieder zu einem Menschen werden …
    »Und nun feiern Sie hier allein Weihnachten?« fragte der Fliegerfeldwebel. »Übrigens, ich heiße Karlheinz Petsch. Kein schöner Name, aber ich bin nicht schuld daran.« Er lachte, kramte in seinen Taschen herum und holte eine angebrochene Blechschachtel mit Schoka-Cola hervor. Er hielt sie Ursula hin und nickte ihr zu. »Mein Beitrag zu Ihrem Weihnachtsfest. Das ist alles, was ich habe. Ja, und Urlaub habe ich. Sechs Tage noch.« Er sah sich um und lehnte sich zurück gegen die Kellerwand. Eigentlich schön, daß ich gerade hier untergekrochen bin. Ich bin nämlich genauso einsam wie Sie. Meine Braut ist weg, keiner weiß, wohin. Und meine Eltern sind evakuiert. Ich hab's erst hier erfahren.
    »Was halten Sie davon, wenn wir zwei Vergessenen gemeinsam Weihnachten und Neujahr feiern?«
    Ursula Schwabe schüttelte den Kopf. »Ich möchte allein sein«, sagte sie leise.
    »Aber warum denn? Jeder Tag ist wichtig. Heute oder morgen können wir eins aufs Dach bekommen, und dann ist's aus für immer! Ich werde uns zwei Flaschen organisieren, und dann sieht die Welt ganz anders aus!«
    »Bitte, nein«, sagte Ursula. Sie beugte sich vor und richtete eine Kerze gerade, damit sie nicht so sehr tropfte und nicht zu schnell abbrannte.
    Karlheinz Petsch sprang von der Kiste auf und klopfte Ursula auf den schmalen Rücken.
    »Der Rummel ist vorbei! Ich komme heute abend wieder. Und im übrigen hat es wenig Sinn, immer das Bild anzusehen. So sieht er nicht mehr aus! Sie sollten sich lieber ein Bild kommen lassen, wie er jetzt aussieht.« Er klopfte Ursula wieder auf die Schulter und drehte eine blonde Locke um seinen Zeigefinger. »Und nun laß

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