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Das geschenkte Gesicht

Das geschenkte Gesicht

Titel: Das geschenkte Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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preßte beide Hände gegen das wild hämmernde Herz. Was habe ich getan, dachte sie. Ich habe die Gewalt über mich verloren. Ich habe mich als Ärztin unmöglich benommen. Aber ich konnte nicht anders. Bei Gott – ich wäre zerplatzt, wenn ich sie nicht hinausgeworfen hätte.
    Am Ende des Flurs wartete Dr. Urban. Als er Irene Adam mit gesenktem Kopf herankommen sah, eilte er ihr entgegen. An ihrem Gesicht sah er, was geschehen war. Er hatte es nicht anders erwartet, ja, er hatte es sich sogar so gewünscht, als er Irene Adam zu Lisa Mainetti schickte.
    »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte er mit galant flötender Stimme. »Sie wohnen in Bernegg?«
    »Nein. In Oberhalden. In Bernegg war alles schon besetzt. Oberhalden, Hotel ›Goldener Engel‹.« Sie sah Dr. Urban hilfeflehend aus ihren unschuldigen Kinderaugen an. »Sie hat mich hinausgeworfen.«
    »Ich weiß. Sie ist eine böse Frau.« Dr. Urban zog seinen Arztkittel aus und warf ihn auf einen Stuhl, der an der Wand des Flurs stand. Die Offiziersuniform kleidete ihn vorzüglich. Irene Adam stellte es sachkundig fest. »Wäre es Ihnen unangenehm, wenn ich Sie mit dem Wagen nach Oberhalden bringe, gnädige Frau?«
    »Unangenehm? Wie können Sie so etwas fragen? Gerade jetzt brauche ich männlichen Schutz … Ich bin doch so allein.«
    »Na, dann wollen wir!« Dr. Urban ging ihr voraus und öffnete vor ihr die Tür des Seitenausgangs, der zu einem der Parkwege führte und von dort zur Hauptwache. »Wann fahren Sie zurück nach Hause, gnädige Frau?«
    »Vielleicht in zwei Tagen«, sagte Irene Adam und ordnete ihre weißblonden Locken. »Vielleicht – es vermißt mich ja niemand …«
    Während sie hinunter zur Hauptwache gingen, stieß Dr. Mainetti die Fenster ihres Zimmers auf. Es war ihr unmöglich, den Geruch,von Irene Adams Parfüm länger zu ertragen.
    Nach dem Mittagessen wurde die Post verteilt. Sie war heute etwas später gekommen; zudem hatte die Verwaltung, die die Briefe auf die einzelnen Blocks verteilte, an diesem Weihnachtstag ein ruhigeres Tempo als sonst vorgelegt, was sich bei dem großen Weihnachtsposteingang in beträchtlichem Zeitverlust auswirkte.
    Dr. Urban hatte es übernommen, die Post noch einmal durchzusehen, bevor sie an die Stationen weitergegeben wurde. Zwei Männer halfen ihm dabei – ein Sanitätsgefreiter aus Urbans Station und der taube Kaspar Bloch.
    »Sieh an«, sagte Dr. Urban plötzlich und drehte einen Brief in seinen Fingern. Kaspar Bloch schielte hinüber – er sah nur ein amtliches Kuvert mit einem großen Dienststempel. »Ein Brief für unseren tauben Kaspar Bloch.« Dr. Urban steckte den kleinen Finger in den Schlitz der Briefklappe und riß das Kuvert auf. Gemeiner Hund, dachte Bloch. Aber da er nicht hören durfte, was Urban sagte, zeigte er nach außen hin keinerlei Bewegung und sortierte ruhig die anderen Briefe nach den Zimmernummern weiter.
    Dr. Urban beobachtete Kaspar Bloch. Langsam faltete er den Briefbogen auseinander und las aufmerksam. Dann winkte er dem Sanitätsgefreiten und nickte zu Kaspar Bloch hinüber.
    »Eine Sauerei ist das«, sagte Dr. Urban laut. »Gerade zu Weihnachten muß das kommen. Wie bringt man das dem armen Bloch bloß bei? Es wird am besten sein, wenn wir ihm dieses Schreiben erst nach den Feiertagen aushändigen.«
    »Jawoll, Herr Oberarzt.« Der Gefreite sah verblüfft zu Dr. Urban hinauf. »Um was handelt es sich denn?«
    »Ein Brief der Kreisleitung. Beim letzten Luftangriff ist Blochs Mutter ums Leben gekommen.«
    Kaspar Bloch durchfuhr es wie ein feuriger Strahl, der sein Inneres im Bruchteil einer Sekunde verbrannte. Er schloß die Augen und riß den Mund auf. Aber im gleichen Augenblick hämmerte es durch sein Gehirn: Er sieht dich an … Er beobachtet dich jetzt … Du hast nichts gehört … du hast nichts gehört … du bist ja taub … taub … taub … Mutter ist tot, dachte er. Das ist keine Falle mehr. Er hat das Schreiben ja in der Hand, ich habe das amtliche Kuvert gesehen, den Dienststempel, er hat es vor meinen Augen aufgerissen. Mutter ist tot … Mutter …
    Dr. Urban faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in die Uniformtasche. Er tat so, als sei es eine unwichtige Sache. Nachdenklich und fragend sah er auf den Rücken Kaspar Blochs, der scheinbar ruhig wie immer die Post sortierte. Kleine Häufchen, nach Zimmern geordnet.
    Entweder ist er wirklich taub, dachte Urban unsicher, oder der Kerl hat eine Beherrschung, die einmalig ist. Das ›Experiment‹,

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