Das geschenkte Gesicht
wie er seine unüberbietbare Gemeinheit nannte, war mißlungen. Mit schnellen Schritten verließ er das Zimmer. Auf dem Gang nahm er den Brief aus der Tasche, zerriß ihn in ganz kleine Fetzen und warf sie in einen Papierkorb. Es war wirklich ein unwichtiges Schreiben: ein alter Brief der Kreisleitung mit einer Einladung zur Feier des 9. November.
Kaspar Bloch wartete, bis einige Minuten verstrichen waren. Sein verzerrtes Gesicht war gelblichblaß und eingefallen. Mit zitternden Händen sortierte er die Briefe, aber er achtete gar nicht mehr darauf, wohin er die einzelnen Kuverts legte. Er starrte hinaus in den verschneiten Park und kämpfte mit dem Stöhnen, das ihm in der Kehle saß und nach außen drängte, wie eine Faust, die von innen gegen seinen Mund stieß.
Dann ging es einfach nicht mehr. Er ließ den Stapel Post, den er gerade genommen hatte, zurück auf den Tisch fallen und rannte aus dem Zimmer. Der Sanitätsgefreite beachtete ihn nicht. Er verschnürte gerade wieder ein beschädigt angekommenes Paket, aus dem selbstgebackene Plätzchen und ein Pullover hervorquollen. Kaspar Bloch blieb im großen Treppenhaus stehen und lehnte sich mit der Stirn an eine der kalten Säulen. Wohin, dachte er. Mein Gott, wohin soll ich gehen? Wem kann ich sagen, daß ich hören kann? Wen kann ich fragen, ob es wirklich wahr ist, daß Mutter …
Es blieb ihm keine andere Wahl, als sich zu verraten. Mit großen Sprüngen raste er die Treppe hinunter zum Zimmer Lisa Mainettis und riß die Tür auf, ohne anzuklopfen.
Dr. Mainetti las einen langen Brief, der mit der Weihnachtspost gekommen war. Erschrocken sah sie hoch, als Kaspar Bloch in das Zimmer stürzte und die Tür hinter sich zuschlug.
»Frau Doktor …«, stammelte er. »Bitte, bitte, Frau Doktor, verraten Sie mich nicht …«
Dr. Lisa Mainetti legte den Brief zur Seite und zeigte auf einen Stuhl. Sie war weder erstaunt noch verärgert.
»Setzen Sie sich, Bloch«, sagte sie ruhig. »Ich wußte, daß Sie hören können. An Ihren Augen habe ich es gesehen.«
Bloch nickte. Er sank auf den Stuhl und schlug beide Hände vor die Augen. Auf einmal weinte er, leise, wimmernd wie ein gefallenes Kind. Dr. Mainetti ging zur Tür und schloß sie ab.
»So. Jetzt sind wir ungestört. Und nun packen Sie aus. Sie haben geahnt, daß ich Ihr Geheimnis kenne?«
Kaspar Bloch nickte. »Ich kann nicht mehr«, stammelte er. »Es ist zuviel. Ich halte es nicht mehr durch … Bitte, helfen Sie mir, Frau Doktor … bitte, bitte.«
Eine Ahnung stieg in Lisa Mainetti auf. Sie schloß auch das Fenster zum Park und lehnte sich gegen die Fensterbank.
»Was hat Dr. Urban Ihnen gesagt, Bloch?«
»Nichts! Gar nichts!« Kaspar Bloch sah mit flackernden, fast irren Augen zu der Ärztin hinüber. »Er hat einen Brief bekommen. Von der Kreisleitung. Meine Mutter … beim letzten Angriff … Er will ihn mir erst nach den Feiertagen geben … Bitte, bitte, Frau Doktor …« Sein Kopf sank auf den Tisch, und er weinte haltlos.
In Lisa Mainetti breitete sich wieder die explosive Hitze aus, die sie beim Anblick Irene Adams gespürt hatte. Es kann möglich sein, dachte sie schnell. Jeden Tag werden jetzt die deutschen Städte vom Bombenflugzeug zerfetzt, täglich sterben Hunderte unter brennenden und berstenden Trümmern. Aber es kann auch eine Falle sein, eine der gemeinsten Fallen, die ein Mensch sich ausdenken kann.
»Wann ist der Brief gekommen, Bloch?«
»Vorhin mit der Post. Ich half bei der Sortierung.«
»Warten Sie. Ich hole Ihnen den Brief.«
Dr. Mainetti schloß die Tür auf, steckte den Schlüssel um und schloß ihr Zimmer von draußen wieder ab. Mit schnellen Schritten ging sie zum Geschäftszimmer und klopfte vor dem eine Zahlenreihe addierenden Zahlmeister auf den Tisch.
»Ich möchte die Post meiner Station«, sagte sie laut.
Der Zahlmeister sah verblüfft und etwas ratlos in das gerötete Gesicht der Ärztin.
Ein Soldat, der respektvoll neben dem Schreibtisch stand, kam ihm zu Hilfe. »Die hat Herr Dr. Urban schon abgeholt. Vor zwei Stunden.«
»Was hat Dr. Urban mit meiner Post zu schaffen? Er hat seine eigene Station! Ich wünsche in Zukunft nicht, daß meine Post anderen ausgehändigt wird.«
Ehe der Zahlmeister etwas antworten konnte, war sie schon hinaus und rannte zu dem Zimmer, in dem der Gefreite noch immer die beschädigten Pakete zusammenschnürte.
»Die Post von Station II!« rief Lisa Mainetti.
»Bitte!« In strammer Haltung zeigte der Gefreite auf die
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