Das geschenkte Gesicht
den Kopf nicht hängen, Mädchen. Es ist doch alles Mist um uns herum. Wir ändern nichts mehr. Also bis heute abend!«
Er rannte die Treppen hinauf und ließ die Kellertüre offen. Ursula preßte beide Hände auf die Brust. Sie starrte das Bild Erichs an, und vor ihren Augen verschwamm sein lächelndes Gesicht, und eine Fratze schrie ihr entgegen.
Da sprang sie auf, rannte zur Treppe und schrie hinauf:
»Ich will Sie nicht mehr sehen! Kommen Sie nicht! Bitte, kommen Sie nicht! Ich will es nicht!«
Sie warf die Kellertür zu, verriegelte sie und rückte die Kiste davor, auf der er gesessen hatte.
Aber noch während sie es tat, wußte sie, daß es sinnlos war. Er würde kommen – und sie würde ihn hereinlassen.
Auf dem Wege zu Fritz Adam – wie Blei war es in den Beinen Dr. Lisa Mainettis, als sie die Treppe hinaufstieg – hörte sie in ihrem Zimmer die Alarmglocke läuten. Sie machte kehrt und ging zurück zur Aufnahme, wo bereits der Assistenzarzt in seinen weißen Kittel schlüpfte.
»Ein Frontzugang!« rief der Unteroffizier vom Telefon. »Ist auf dem Wege zu uns und kommt gleich an. Wurde zu uns eingeflogen. Muß ein harter Brocken sein.«
»Und das zu Weihnachten!« sagte der Assistenzarzt. »Wo das ganze Haus voll von Besuchern ist.«
In aller Eile wurde der Eingang abgesperrt. Die Besucher wurden durch einen Seiteneingang geleitet, der Zugang zum OP wurde abgeriegelt.
Im Operationssaal bereiteten die Schwestern schon das Nötigste vor. Man kannte die Sofortmaßnahmen von Hunderten von Einlieferungen her. Meist wurde nur eine erste Wundversorgung vorgenommen.
Dr. Mainetti war noch beim Händewaschen, als der Sanka vorbeifuhr und zwei Sanitäter eine zugedeckte Trage in den Block B trugen. Der Assistenzarzt dirigierte sie sofort zum OP, wo sie die Trage abstellten. Ein langgestreckter Körper lag unter den Decken, unbeweglich, wie erstarrt.
Der Assistenzarzt hielt Dr. Lisa Mainetti den Laufzettel vor die Augen, während sie sich weiter wusch.
»Fischer, Rudolf. Leutnant, geb. am 24.4.1916 in Breslau. Verwundet am 23.12.1944. Eingeliefert in HVP 0 Uhr 10. Ausgeflogen 14 Uhr 17. Dreitausend Einheiten Tetanusserum vom Hammel. Puls 60, Temperatur 36,0, in der Achselhöhle gemessen. Verletzung durch Granatsplitter von Schädel und Gesicht.«
Dr. Mainetti sah hinüber zu der zugedeckten Bahre.
»Decken Sie ihn auf«, sagte sie zu dem jungen Arzt. »Wir sind so etwas ja gewöhnt.«
Die Sanitäter zogen die Decke vom Kopf Rudolf Fischers. Einen Augenblick hielt selbst Dr. Mainetti mit dem Waschen inne. Es war kein Kopf mehr, kein Gesicht, keine menschliche Form. Es war ein Wunder, daß dieser Mensch lebte, daß er atmete, daß sein Herz weiter in der Brust zuckte.
Ein einziges Auge war ihm geblieben. Es lag inmitten eines Gewühls von zersplitterten Knochen und zerfetztem Fleisch. Die Kiefer waren abgerissen und die Schädeldecke zertrümmert. In der Luftröhre hatte der Verwundete einen Schnitt, in den man eine Kanüle gesteckt hatte. Nur durch diese Tracheotomie war es möglich gewesen, ihn vor dem Ersticken zu bewahren.
Lisa Mainetti starrte auf das eine, das übriggebliebene linke Auge. Es lag in einem schweren Bluterguß, das Weiße im Auge war dunkelrot verfärbt, aber es war voll Leben. Es sah sie an mit erschreckender Deutlichkeit: ein kleiner Fleck Leben inmitten einer völlig zerstörten, verwüsteten Landschaft aus Blut und Knochen.
»Auf den Tisch – vorsichtig!« sagte Dr. Mainetti gepreßt. Sie trat zur Seite und ließ die Hände abtropfen, und der Blick des einen Auges folgte ihr.
6
Er ist bei vollem Bewußtsein, dachte Dr. Lisa Mainetti und half mit, den starren Körper auf den Operationstisch zu heben. Sie sah die bleichen Gesichter der Sanitäter und des Famulus Baumann, und sie hatte selbst Mühe, ein Frösteln zu unterdrücken.
Wie kann ein solcher Mensch noch leben, dachte sie dann. Warum hat das Herz nicht einfach aufgehört zu schlagen? Was soll ein solches Wesen noch auf dieser Welt: ein blutiger Brei mit einem großen Auge darin?
Dr. Mainetti beugte sich über Leutnant Rudolf Fischer, als er auf dem OP-Tisch lag. Sie wußte nicht, ob er sie hören konnte. Aber als sie nahe an seinem Auge war, erkannte sie, daß er sie genau beobachtete.
»Das bekommen wir schon wieder hin, mein Junge«, sagte Dr. Lisa Mainetti mit fester Stimme. »Es sieht immer alles schlimmer aus, als es wirklich ist! Schon in einer Stunde ist alles ganz anders.«
Sie las noch einmal den
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