Das geschenkte Leben
Angela, Joe?«
»Die dritte. Mama hat recht. Das ist Bevölkerungspolitik. Was nicht weiß und möglichst angelsächsisch ist, soll zurückgedrängt werden. Verdammte Rassisten. Aber du brauchst nicht alles vorzulesen. Lies und sag es mir.«
»Ja. Nun, viel mehr steht auch nicht drin, nur ein bißchen Klatsch über Nachbarn, Bemerkungen über das Wetter. Die eigentlichen Neuigkeiten sind, daß ihre Magensache andauert und daß Angela schwanger ist.« Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn ins Kuvert. »Laß mich einen Moment unter die Dusche, daß ich dieses Rot und Schwarz wegbringe, dann kannst du mich anmalen oder abmalen oder was du willst. Du kannst inzwischen eine Pizza für mich wärmen, ja? Und Joe? Laß uns nicht länger als bis zwölf machen, und ich wäre sehr froh, wenn du morgen mit mir aufstehen würdest – ziemlich früh, fürchte ich. Aber du kannst dann wieder ins Bett.«
»Wozu?«
»Für den Boß, Liebster. Um ihn aufzumuntern.«
»Was? Du meinst, ich soll dich für ihn bemalen?«
»Ja. Ganz.« Sie erklärte ihm ihre Idee, und was sie zu ihrer Körperbemalung tragen wollte.
Er zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Aber warum willst du einen G-String tragen? Der alte Mann liegt im Sterben, dann laß ihn wenigstens gucken. Wird niemandem schaden.«
»Doch, mein Lieber. Der Boß ist stolz darauf, ›modern‹ zu sein und ›mit der Zeit zu gehen‹, doch in Wirklichkeit stammen seine Ansichten aus einer Zeit, in der Nacktheit nicht nur üblich, sondern sogar eine Sünde war. Solange ich einen winzigen G-String trage – und Körperfarbe und Schuhe – bin ich angezogen, nicht nackt. Nach seinen ›modernen‹ Ansichten, meine ich. Dann bin ich einfach ein nettes Mädchen, das sich verworfen gibt, um ihm zu gefallen. Und das gefällt ihm.«
Er schüttelte den Kopf. »Kapier ich nicht.«
»Oh doch, das tust du, Lieber. Es ist Symbolismus, genau wie in der Kunst. Nur müssen es die Symbole des Chefs sein. Nacktheit bedeutet für unsere Generation überhaupt nichts. Für den Boß aber schon. Wenn ich diesen winzigen Nylonfetzen ausziehe, bin ich entsprechend seines Symbolismus’ kein nettes Mädchen mehr, sondern eine Hure.«
»Huren sind okay. Angela ist eine.«
(Eine ziemlich ungeschickte.) »Natürlich sind sie okay. Aber nicht für den Boß. Es ist schwer für mich, seine Ansichten richtig einzuschätzen. Ich bin achtundzwanzig und er ist über neunzig, und ich kann leider keine Gedanken lesen. Wenn ich es zu weit treibe, könnte er verdrießlich werden – sogar sehr ärgerlich. Er könnte mich feuern. Und was würden wir dann tun? Wir müßten dieses schöne Atelierzimmer aufgeben.«
Sie sah sich um. Ja, es war schön. Abgesehen von dem Kleinwagen, der bei der Tür abgestellt war, und dem Bett in der Ecke neben dem Wandschrank, zeigte der Raum das bunte Durcheinander eines Künstlerateliers, in ständiger Veränderung und doch immer gleich. Das Stahlgitter vor dem großen Nordfenster machte ein hübsches Muster und war so stark, daß sie sich nie fürchtete. Sie fühlte sich hier warm und sicher und glücklich.
»Wenn er dich wegen so etwas feuern würde, obwohl deine Arbeit in Ordnung ist«, sagte Joe ernst, »wäre es besser, du würdest dich gleich nach einem anderen Job umsehen. Natürlich, diese Höhle ist nicht übel. Aber wenn wir sie verlieren, wen kümmert es? Pleite sein schreckt mich nicht.«
(Aber mich, Joe!) »Ich liebe dich.«
»Ich werde schon was machen, aber für einen netten alten Knaben, der im Sterben liegt, und nicht, um die Wohnung zu retten.«
»Ich wußte, daß du es für mich tun würdest! Joe, du bist der netteste Mann, den je ein Mädchen hatte.«
Er antwortete nicht und machte ein finsteres, gequältes Gesicht, das sie als Geburtswehen schöpferischer Eingebung erkannte. So blieb sie still. Nach einer Weile seufzte er. »Morgen wirst du Meerjungfrau sein.«
»Gut.«
»Und heute abend. Muß was ausprobieren. Oberkörper seegrün mit rosa, um die Taille Übergang zu Goldfischschuppen. Hintergrund Meer mit durchsickerndem Sonnenlicht. Traditionelle Meeresbodensymbole, Seesterne, Muscheln und so weiter. Letzter Kitsch, aber romantisch. Du kommst von oben und tauchst zum Grund, das Haar wehend, die Füße beisammen, Kreuz durchgedrückt. Vor die Lampe kommt ein gesprenkelter Schirm, dann sieht es wie unter Wasser aus. Aber wir können dich nicht an Drähten aufhängen, selbst wenn wir welche hätten. Haltegurte wären zu sehen, Haar würde
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