Das geschenkte Leben
jemand hatte eine hübsche Bettjacke aufgetrieben, die zu ihren Augen paßte. Das Beste freilich war, daß sie jetzt ihre Arme bewegen konnte.
Johann stellte fest, daß ihre Hände zitterten. Sie besah ihre schmalen Finger und entdeckte, daß sie sorgfältig manikürt waren. Sie führte eine Hand probeweise zum Mund. Es war eine sehr unsichere Bewegung, und sie beschloß, nur solche Dinge zu essen, die nicht auf ihr Hemd tropfen konnten. (Nur ruhig, Boß. Überlaß das Essen mir.)
(Aber …)
(Kein ›Aber‹. Ich habe dieses Gesicht seit Jahren gefüttert. Der Körper erinnert sich, Boß. Du redest; ich kümmere mich um die Kalorien.) (Aber ich verstehe nicht …)
Die Tür ging auf. »Hallo, Johann!«
»Guten Morgen, Jake. Gut geschlafen?«
»Wie ein Kind.«
»Gut. Ich auch.« Johann streckte ihre linke Hand aus, weil es die Seite war, von wo der Anwalt kam. »Sieh mal, Jake! Hände!«
Salomon nahm ihre Hand, beugte sich darüber, zögerte und berührte sie dann mit seinen Lippen. Johann war so verblüfft, daß er nichts sagen konnte. (Guter Gott! Für was hält er mich? Der alte Gauner und Hände küssen!) (Er hält dich für ein hübsches Mädchen. Das bist du, ich weiß es. Boß, wir müssen über Jake sprechen – später.)
Dr. Rosenthal sagte: »Ich bin nicht eingeladen, aber darf ich trotzdem hereinkommen, Miss Smith?«
»Sie sind willkommen, Doktor. Ihr Gutachten wird den Vormundschaftsrichter überzeugen müssen, daß ich keine Termiten im Kopf habe; ich verlasse mich auf Sie, Doktor.«
Der Psychiater lächelte auf sie herab. »Diesem Appell ist schwer zu widerstehen. Sie sehen großartig aus, Miss Smith.«
Johann lächelte und gab ihm die Hand. Dr. Rosenthal beugte sich darüber und küßte sie. Es war keine flüchtige und furchtsame Berührung wie bei Salomon, sondern eine, die weich und warm und sinnlich war. Johann fühlte etwas wie einen prickelnden Schauer den Arm hinauf laufen. (He, was ist das? Bin ich schon ein Opfer der weiblichen Hormone?) (Laß dich nicht auf seine Psycho-Couch locken, Boß. Er ist ein Wolf.)
Als Rosenthal sich aufrichtete, hielt er Johanns Hand einen Moment länger als nötig in der seinen, lächelte wieder und entfernte sich. Johann wollte ihn fragen, ob dies seine übliche Art sei, Patienten zu behandeln, aber eine Stimme von der Tür kam ihr zuvor: »Sollen wir jetzt servieren, Miss Smith?«
Johann wandte den Kopf und erkannte ihren alten Diener. »Cunningham! Wie gut, Sie zu sehen! Ja, Sie können servieren.« Johann fragte sich, wer seinem Hauspersonal Anweisung gegeben hatte, dieses Frühstück zu einer formellen Angelegenheit zu machen. Der Diener starrte über ihren Kopf und sagte mit tonloser Stimme: »Danke, Miss.« Sein Gesicht war aschfahl. Der arme Mann hatte offensichtlich Angst.
»Kommen Sie zu mir, Cunningham.«
»Ja, Miss.« Der Chef ihres Haushalts ging mit steifen Schritten auf sie zu und machte in sehr respektvoller Distanz halt.
»Bitte kommen Sie bis ans Bett. Sehen Sie mich an, wenden Sie Ihre Augen nicht ab. Cunningham, mein Aussehen ist ein Schock für Sie, nicht wahr?«
Cunningham schluckte, ohne etwas zu sagen.
»Sagen Sie es ruhig«, ermunterte Johann ihn. »Natürlich ist es ein Schock. Aber wenn es Sie aufregt, dann denken Sie daran, was für ein Schock es für mich gewesen ist – und noch ist. Bis gestern wußte ich nicht mal, daß sie mein Gehirn in eine Frau gesteckt hatten. Ich muß mich erst daran gewöhnen, genau wie sie. Trösten Sie sich damit, daß hinter diesem glatten Gesicht derselbe grobe, rechthaberische und unvernünftige alte Kerl steckt, der Sie vor neunzehn Jahren eingestellt hat. Ich werde weiterhin perfekte Bedienung erwarten, sie sowenig wie bisher bemerken und meistens vergessen, danke zu sagen. Verstehen wir einander?«
Der Diener lächelte kaum. »Ja, Sir – ich meine, ja, Miss.«
»Sie meinten ›ja, Sir‹, aber Sie werden lernen müssen, ›ja, Miss‹ zu sagen, und ich werde lernen müssen, es zu erwarten. Wir alten Hunde müssen umlernen, besonders ich. Aber sonst würde ich mich freuen, wenn alles hier beim alten bliebe. Sie können jetzt servieren.«
»Danke, Miss.«
Das Frühstück verlief in gelockerter Atmosphäre, das Tischgespräch war lebhaft und richtete sich meistens an die Gastgeberin, ohne ihren Status als Patient zu berühren. Aber Johann konnte sehen, daß Jake wenig und ohne Appetit aß und ihrem Blick auswich. (Eunice, was unternehmen wir wegen Jake?) (Später, Boß – immer eins
Weitere Kostenlose Bücher