Das Gesetz der Vampire
Normalerweise hätte er entweder um diese Zeit geschlafen oder einen Job erledigt. Doch das war unwiederbringlich vorbei. Ein Grund mehr, das Ende der Neunzig-Tage-Frist herbeizusehnen.
»Spricht etwas dagegen, dass ich nach draußen gehe?«, fragte er Stevie, nachdem er begonnen hatte, in der Wohnung wie ein gefangenes Tier auf und ab zu gehen und dafür von ihr bereits mehr als einen bösen Blick geerntet hatte.
»In der ersten Woche nur in meiner Begleitung. Das ist keine Schikane«, fügte sie hinzu, als sie seinen ungläubigen und beinahe beleidigten Gesichtsausdruck sah, »sondern zu deinem und unserem Schutz notwendig, bis du soweit bist, dass du allein zurecht kommst.« Sie erhob sich und schaltete den Fernseher aus. »Außerdem tut mir ein bisschen frische Luft auch ganz gut. Gehen wir also.«
Ashton wäre sehr viel lieber allein gewesen, musste sich aber wohl oder übel mit Stevies Begleitung abfinden. Zum Glück war sie nicht zum Smalltalk aufgelegt. Trotzdem war es ein seltsames Gefühl, an ihrer Seite durch die nächtlichen Straßen zu gehen. Es erinnerte ihn an seine Zeit als Streifenpolizist, als er mit seinem Partner manche Meile am Tag oder auch in der Nacht durch die Straßen gefahren und hin und wieder in bestimmten Gegenden von New York auch zu Fuß gegangen war. Jetzt war das eine sehr schmerzhafte Erinnerung, die ihm nur umso deutlicher zu Bewusstsein brachte, was er durch die Verwandlung verloren hatte. Wahrhaftig, Rebecca Morris’ Rache war perfekt.
Harry Quinns Duftwolke nach Black Mallory stieg ihm in die Nase, noch ehe er den Freund und die drei anderen Jäger sah. »Jäger!«
Stevie hatte deren Geruch von der vergangenen Nacht her wohl ebenfalls wiedererkannt, denn sie reagierte beinahe noch ehe Ashton die Warnung ausgesprochen hatte. Sie legte einen Arm um seine Taille, stieß sich vom Boden ab, und nur eine Sekunde später saßen sie auf dem Dach des Hauses, an dem sie gerade vorbeigegangen waren. Gleich darauf bogen Harry und die anderen um die Ecke und ahnten nicht, dass zwei Vampire direkt über ihnen hockten.
»Ehrlich, Harry«, hörte er Alice Rosendahl sagen, »ich kann mir nicht vorstellen, dass Ashton noch in Baltimore ist. Schließlich hat der Tankwart, dem er seinen Wagen verkauft hat, doch gesehen, wie er in den Bus nach Washington gestiegen ist.«
»Er ist noch hier, verlasst euch drauf«, knurrte Quinn. »Ashton ist viel zu clever, um irgendjemanden Zeuge werden zu lassen, wohin er sich absetzt, wenn er wirklich von der Bildfläche verschwinden will. Falls er tatsächlich in den Bus gestiegen ist und den armen Kerl von der Tankstelle nicht hypnotisiert hat wie uns, dann ist er garantiert noch vor der ersten Haltestelle wieder ausgestiegen und hierher zurückgekommen, weil er davon ausgeht, dass wir ihn an jedem anderen Ort vermuten, nur nicht mehr hier.«
Ashton musste zugeben, dass Harry seine Denkweise akkurat durchschaut hatte. Nach zehn Jahren, in denen sie die meisten Vampirjagden sowie etliche andere Fälle gemeinsam übernommen hatten, kannte jeder den anderen einfach zu gut.
»Du bist dir wirklich sicher, dass er uns hypnotisiert hat?«, fragte Johnny Wong zweifelnd. »Müssten wir nicht wenigstens irgendeine Ahnung davon haben, dass wir ihm begegnet sind?«
»Was tun wir, wenn wir feststellen, dass ein gesuchtes Fahrzeug nicht mehr dort ist, wo es laut GPS-Signal eben noch war?«
»Wir nehmen eine neue Peilung vor.«
»Und das tun wir auf der Stelle und legen uns nicht ins Hotel für geschlagene acht Stunden schlafen! Glaub mir, Johnny, Erinnerung oder nicht, Ashton hat uns alle vier hypnotisiert, und wir können von Glück sagen, dass er sich wohl noch an unsere Freundschaft erinnert hat, andernfalls wären wir jetzt alle tot. Verdammt, warum musste diese blutsaugende Mistbrut ausgerechnet ihn erwischen!«
Die vier Jäger verschwanden um die nächste Ecke und schwiegen zu Ashtons Erleichterung. Falls er noch einen Beweis dafür gebraucht hätte, dass seine Kollegen – ehemalige Kollegen – in ihm nur noch einen Feind sahen, so hätte er den gerade bekommen. Er war versucht, sich Harry und den anderen hier und jetzt zu stellen, damit sie seiner Existenz endlich ein Ende bereiteten und verfluchte sich dafür, dass er Gwynal sein Wort gegeben hatte, eben das nicht zu tun.
Er fühlte, wie Stevie ihm federleicht eine Hand auf den Arm legte und musste sich beherrschen, um sie nicht abzuschütteln wie ein ekelerregendes Insekt.
»Es tut mir leid für
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