Das Gesetz der Vampire
erkannte immer deutlicher, dass sie tatsächlich ein ganz normales Leben führten, nur dass es sich ausschließlich in der Nacht abspielte und sie Blut als Nahrung brauchten. Er sah im Blue Moon Pärchen, die sich in nichts von menschlichen Paaren unterschieden. Sie waren genauso verliebt oder zerstritten wie Menschen. Sie hatten feste oder flüchtige Beziehung, Sex oder nur Freundschaft wie die Menschen auch.
Es gab nur einen gravierenden Unterschied. Selbst die flüchtigen Beziehungen waren intensiver als bei Menschen. Außerdem betrachteten sich fast alle Vampire als eine große Familie. Sie lebten eine Solidarität und bedingungslose gegenseitige Unterstützung, die Ashton bei Menschen nur sehr selten gesehen und in dieser Form nie selbst erfahren hatte.
In diese Solidarität bezogen sie schließlich auch ihn mit ein, nachdem sie sahen, dass er sich streng an die Gesetze hielt, obwohl zumindest hier in Baltimore alle wussten, dass er ein Jäger gewesen war und etliche von ihnen getötet hatte. Menschen hätten sich in diesem Fall vollkommen anders verhalten, und Ashton grübelte lange darüber nach, was das letztendlich über die Vampire und über die Menschen aussagte.
Vor allem aber zwang es ihn, sich intensiv mit sich selbst auseinander zu setzen. Er hatte sich immer für einen ehrenhaften Mann gehalten, eine Art »Weißen Ritter« und Beschützer. Das war sein Motiv gewesen, den Beruf des Polizisten und später des Privatdetektivs zu ergreifen. Er wollte die Menschen beschützen, die sich nicht selbst beschützen konnten. Jetzt musste er sich eingestehen, dass er selbst zu einem Verbrecher geworden war, sogar zum schlimmsten Verbrecher, den es in seinen Augen gab: einem Mörder unschuldiger Wesen. Dennoch wurde er von den Vampiren nicht einmal dafür bestraft, weil seine Unwissenheit zum Zeitpunkt der Taten ihn davor schützte.
Er begriff, dass er, wie Gwynal gesagt hatte, den Vampiren etwas als Ausgleich für diese Verbrechen schuldete, wenn er tatsächlich der Mann war, für den er sich immer gehalten hatte. Sich selbst umzubringen oder umbringen zu lassen, wäre nur eine Flucht vor der Verantwortung, Feigheit vor dem »Feind«, den seine Schuldgefühle für ihn darstellten, weil sie ihm unerträglich erschienen und ihn zunehmend belasteten, je mehr Unterstützung und sogar Freundlichkeit er von den Vampiren erfuhr.
Allerdings begegneten ihm nicht alle freundlich oder zumindest neutral. Die fünf Vampire, die ihn bei seinem ersten Besuch im Blue Moon angegriffen hatten, kamen regelmäßig auf einen Drink vorbei. Zwar verhielten sie sich Ashton gegenüber nicht offen feindselig, aber sie ließen ihn nicht aus den Augen und hatten, den Blicken nach zu urteilen, die sie ihm zuwarfen, ihre mordlüsternen Rachepläne keineswegs aufgegeben.
Immerhin brachte die Existenz als Vampir tatsächlich viele Fähigkeiten mit sich, die er, wie Stevie gesagt hatte, zum Wohle der Menschen einsetzen konnte. Das allerdings hätte bedeutet, dass er ein Vampir bleiben müsste, und er fühlte sich in seiner neuen Existenz immer noch alles andere als wohl. Außerdem spukte in seinem Kopf die Sache mit dem Heilmittel, das vielleicht irgendwo existierte.
Wenn er sich nicht tatsächlich feige aus seiner Verantwortung stehlen und nach Ablauf seiner Galgenfrist sterben wollte, so wäre das die einzige Möglichkeit für ihn, wieder ein Mensch zu werden. Die Frage war, ob es sich für diese vage Hoffnung lohnte zu leben. Und wenn ja, was er in der Zwischenzeit tun sollte. Schließlich konnte er nicht seine Tage – vielmehr Nächte – damit verbringen, ausschließlich nach dem Heilmittel zu suchen. Bis er es gefunden hätte, musste er irgendwo von irgendetwas leben. Auf unbestimmte Zeit im Blue Moon Drinks auszuschenken und Gläser zu spülen, entsprach definitiv nicht seiner Vorstellung von befriedigender Arbeit; nicht zuletzt deshalb, weil die ihm nicht die Möglichkeit bot, seine Schuld am Volk der Vampire zu begleichen.
Schließlich sprach er mit Stevie über seine Überlegungen. Die Vampirin hatte sich nach vier Wochen daran gewöhnt, Ashton um sich zu haben, was vielleicht auch daran lag, dass er sich bemühte, ihr keine unnötige Last zu sein. Er erledigte ganz selbstverständlich seinen Teil an Hausarbeit und bemühte sich, keinen Raum ihrer Wohnung in Anspruch zu nehmen, außer der Couch, die sie ihm als Schlafplatz zugewiesen hatte. Hin und wieder machte sie sogar einen Scherz. Dennoch beobachtete sie ihn ständig, was
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