Das Gesetz Der Woelfe
von innen, wie eine riesige, blutende Wunde. Musste sie immer alles kaputt machen? Konnte sie nie, nie, nie jemandem vertrauen? Musste sie jeden zurückstoßen, alle verletzen, die ihr zu nahe kamen? Aber da war dieser Gedanke, dieser ungeheuerliche und doch so logische Gedanke, den sie unausgesprochen zu Micks so auffallend präzisen Ausführungen hinzugefügt hatte und der sich nicht mehr entfernen ließ. Mick hatte recht gehabt. Wenn man jemanden unter Druck setzen will, dann sieht man zu, das Druckmittel möglichst lange in der Hand zu behalten. Am besten so lange, bis das Ziel erreicht ist. Aber, und das war das so verdächtige, fehlende Glied in Micks Argumentationskette, dieser Plan konnte nur dann funktionieren, wenn man das Opfer im Auge behielt. Barletta konnte nicht wissen, wie Clara reagieren, ob sie überhaupt den Zusammenhang verstehen würde. Selbst wenn er sie weiter beobachtete, konnte er nicht mit Sicherheit feststellen, ob sich Clara zurückziehen würde. Er hatte keine Verbindung zu ihr aufgenommen, keine Forderungen gestellt. Er konnte nicht wissen, was genau sie tun würde. Es sei denn, es gäbe jemanden in ihrer Nähe, dem sie sich anvertraute, der über ihre Reaktion und über ihre Pläne Bescheid wusste und der diese Informationen weitergab. Mick hatte sich so erstaunlich gut in Barlettas Denkweise ausgekannt, und das, obwohl Clara ihm gestern nur eine ganz knappe Zusammenfassung der ganzen Geschichte geliefert hatte. Er hatte sich sogar an den Namen Barlettas noch erinnert. Und was wusste sie über Mick? Nichts, rein gar nichts. Sie verkehrte regelmäßig im Murphy’s, hatte schon oft mit Mick geplaudert, ohne dass ihr auch nur ein Schimmer von Interesse für sie aufgefallen wäre. Warum also jetzt, so plötzlich? Und er hatte ihr Angst gemacht. Er hatte diese Geschichte mit dem abgeschnittenen Kopf immer wieder zur Sprache gebracht, obwohl ihm aufgefallen sein musste, wie sie dieses Bild erschreckte. Außerdem hatte er ihr gedroht: Er wird dich nervlich so fertig machen, dass du dich am Ende nicht mehr traust, aus dem Haus zu gehen. Und er hatte ein Motorrad und einen schwarzen Helm. Claras Blick fiel auf die Tüte mit dem Türschloss. Es war nicht dafür gedacht, jemanden von ihr fernzuhalten, sie zu beschützen: Es war dafür gedacht, sie einzusperren. In ihrer Angst gefangen zu halten, bis sie nicht mehr wagte, einen einzigen Schritt zu machen. Clara senkte den Kopf und schloss die Augen. Der Tabakbeutel glitt ihr aus den Fingern, doch sie beachtete ihn nicht. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie würde sich nicht einsperren lassen. Sie würde sich nicht verraten lassen, nur weil sie in einer schwachen Minute jemanden zum Anlehnen gebraucht hatte. So dumm war sie nicht. Schon lange nicht mehr. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle und konnte wieder klar denken. Clara stand auf und warf Micks Tabakbeutel in den Müll zu der leeren Dose Bohnen, den Essensresten und dem stinkenden Inhalt des Aschenbechers. Sie war nicht so machtlos, wie diese Leute sie gerne sehen würden. Sie hatte andere Waffen, weniger brutale aber nicht minder wirkungsvolle. Sie würde diesen Typen die Zähne zeigen, sie würde ihnen ihre Mafia-Spielchen um die Ohren hauen, dass ihnen Hören und Sehen verging. Und sie würde sich nicht verstecken. Grimmig packte Clara die Tüte mit dem Türschloss und warf sie dem Müll hinterher.
Sie stand auf und sah zum Fenster hinaus. Der Himmel, der heute am frühen Morgen noch so klar gewesen war, hatte sich zugezogen, und es war windig und ungemütlich geworden. Nur wenige Leute gingen noch an der Isar spazieren, die Kragen gegen den Wind hochgeschlagen und die Hände in den Jackentaschen vergraben. Fast alle hatten einen Hund dabei. Clara biss sich auf die Lippen und wandte sich ab. Sie würde dort unten nicht mehr spazieren gehen. Nie mehr. Die Verzweiflung kam zurück wie eine unerwartete Woge, der sie nicht standhalten konnte. Sie überflutete sie mit einer Macht, dass es ihr die Beine wegriss, und sie drohte unterzugehen in dem Strudel, der sie mit einem Mal erfasste. Ihr wurde schwindlig. Die Nacht mit Mick, das Frühstück gerade eben kamen ihr mit einem Mal so unwirklich vor wie die Tatsache, dass Barletta Elise entführt oder getötet haben sollte. Das passierte doch nicht wirklich. Es war nicht wahr. Sie ging langsam hinaus auf den Flur und starrte Elises verwaiste Matratze an und die beiden Steingutschüsseln daneben. Es war kein Traum. Es war wirklich passiert.
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