Das Gesetz Der Woelfe
Und sie hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich Mick an den Hals zu werfen. Schamröte schoss ihr ins Gesicht, und sie schloss erschüttert die Augen. Sofort wurde der Schwindel stärker, und Clara musste sich an der Wand abstützen, um nicht umzufallen. Vorsichtig ging sie zurück in die Küche und hielt ein Glas unter den Wasserhahn. Das Wasser war zu warm und schmeckte widerlich, trotzdem trank sie es in gierigen Schlucken aus. Danach fühlte sie sich ein wenig besser, und die Küche hörte auf, sich um sie zu drehen. Müde schlich sie ins Wohnzimmer und ließ sich auf ihre alte Couch fallen. Kämpfen wollte sie. Sich wehren. Und hatte keine Kraft. Keine Waffe, keine Idee. Nichts. Kämpfen wogegen? Gegen Gespenster, gegen einen unsichtbaren Feind, gegen etwas, was ihr so fremd war wie ein anderer Stern. Ein anderes Leben. Mafia,’Ndrangheta, wie sie auch heißen mochten, was hatten diese Dinge mit ihr zu tun? Sie wusste nichts darüber. Es gab Filme, Geschichten, Klischees haufenweise und ab und zu ein paar Schlagzeilen, wenn eine besonders abscheuliche Begebenheit über die Alpen geschwappt kam, aber sonst? Nichts. Stille. Kein Thema. Noch nicht einmal Pöttinger war gewillt gewesen, ihr Näheres darüber zu erzählen. Wie in Gottes Namen sollte man sich gegen etwas zur Wehr setzen, das man nicht verstand? Etwas, das von der eigenen Welt, der, die man kannte und in der man sich zu bewegen wusste, so meilenweit entfernt war? Clara schüttelte den Kopf und verbesserte sich beklommen: von dem man geglaubt hatte, es sei meilenweit entfernt. Sie erhob sich schwerfällig und holte Pöttingers Ordner, der noch draußen im Flur neben ihrer Tasche lag. Wenn ihr schon nichts Gescheiteres einfiel, konnte sie genauso gut ihr Versprechen einlösen und ihn sich einmal ansehen.
Der Ordner war groß und zu schwer, um ihn im Liegen auf dem Sofa zu lesen. Clara hockte sich im Schneidersitz auf den Boden und schlug den Ordner auf. Wie sie schon befürchtet hatte, gab es keine Ordnung, nach der die Papiere sortiert waren. Einige waren nicht einmal eingeordnet, sondern nur dazwischengeklemmt oder an andere Blätter geheftet. Clara begann unentschlossen, die ersten Seiten umzublättern, dann zog sie wahllos einige Blätter heraus. Es waren auch Fotos darunter. Unscharfe Fotos von Männern in irgendeiner italienischen Stadt, ein Auto, ein schmuckloses, ungepflegtes Haus mit vergitterten Fenstern. Sie las auf der Rückseite, dass dies die Polizeistation in einem Dorf in Kalabrien war. Sie hatte es für eine Art Gefängnis gehalten. Als sie ein weiteres Foto herauszog und umdrehte, zuckte sie erschrocken zurück. Es zeigte einen blutigen Schafskopf, Maul und Augen weit aufgerissen, und dort, wo er vom Rumpf abgetrennt worden war, hingen blutige Sehnen, Haut- und Wollfetzen herunter. Auch hierfür gab es einen ordentlichen Vermerk auf der Rückseite: Der Name Saverio Boccascena , eine Adresse und ein Datum standen dort. Dieser Herr war offenbar der Empfänger des Kopfes, und Clara fragte sich, wie er sich diese Zuwendung wohl verdient haben mochte. Prompt fielen ihr Micks Ausführungen zu Elise wieder ein. Sie drehte das Bild schnell wieder um und steckte es zurück.
Dann fand sie einen Artikel aus einer Zeitung über Entführungen in Kalabrien und erschauerte angesichts eines Fotos über den Ort, an dem ein Opfer über Monate gefangen gehalten worden war: Ein Erdloch, nicht größer als ein Grab, verschlossen mit dicken Holzbohlen, irgendwo im unwegsamen Bergland. Nachdem die erpresste Familie nicht bezahlen konnte, hatten die Entführer die junge Frau einfach in dem Loch zurückgelassen. Ihre verweste Leiche wurde erst Monate später zufällig von einem Jäger und seinem stöbernden Hund entdeckt.
Clara erfuhr, dass die’Ndrangheta im Schatten ihrer populäreren Schwester, der Cosa Nostra in Sizilien, klammheimlich zur mächtigsten Verbrecherorganisation Europas aufgestiegen war und unter anderem den Drogenhandel kontrollierte. Ihr Jahresumsatz belief sich auf 35 Milliarden Euro, mehr als die gesamte legale Wirtschaftsproduktion Kalabriens. Sie las, dass der italienische Staat keine Kontrolle mehr über weite Teile Kalabriens hatte und das Gewaltmonopol dort ausschließlich bei den Familien und Clans der’Ndrangheta lag. Morde waren dort keine Seltenheit, sondern Tagesordnung. Ein Bericht, offenbar von der Kommission, der Pöttinger angehört hatte, befasste sich ausführlich mit den Auslandsgeschäften der’Ndrangheta und
Weitere Kostenlose Bücher