Das Gesetz Der Woelfe
zitierte dazu einen Staatsanwalt: »Sie nutzen Deutschland als Ruhezone und sind dort in der Gastronomie und dem Hotelgewerbe tätig. Mit Strohmännern kaufen sie in Deutschland ganze Stadtviertel auf.« Es folgten Statistiken, detaillierte Ausführungen zu den Geldwäschepraktiken und der weitgehenden Ahnungs- und Hilflosigkeit der deutschen Behörden.
Clara ließ den Bericht sinken und sah im Geiste die unzähligen Pizzerien und Eisdielen in München. Wer von denen mochte wohl zu den schwarzen Schafen gehören? Und wer war unschuldig? Mussten diejenigen auch hier Schutzgelder an ihre »Kollegen« bezahlen? Derselbe Staatsanwalt wurde noch einmal zitiert mit einer niederschmetternden Schlussfolgerung: »Mit unserem Rechtssystem ist die’Ndrangheta nicht zu besiegen.«
»Na toll!« Clara stand auf und massierte sich ihre eingeschlafenen Beine. Es war düster im Zimmer geworden, und sie knipste das Licht an. Auf dem Boden verstreut lag der gesamte Inhalt von Pöttingers Ordner, und das, was Clara bisher gelesen hatte, ließ sie Pöttingers Abwehr nur zu gut verstehen. Weitgehend unbemerkt und unbeachtet von der Öffentlichkeit war in den vergangenen Jahren mitten in Europa ein Monster herangewachsen. Ein gefährliches Schattenwesen »so unsichtbar wie die andere Seite des Mondes«, wie ein Ermittler die’Ndrangheta beschrieb. Clara stieg vorsichtig über die Blätter und öffnete eines der Fenster. Kühle Luft strömte herein. Bald würde es Abend werden. Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den trüben Himmel. Plötzlich fiel ihr etwas ein, was sie überflogen, aber nicht näher beachtet hatte. Sie ging zurück und begann in den Blättern zu wühlen. Schnell hatte sie es gefunden. Es war ein Zeitungsartikel. »Die’Ndrangheta lebt im Verborgenen«, stand dort. »Sie agiert global, ihre Wurzeln aber liegen in den gottverlassenen Provinzen Kalabriens und den trostlosen Nestern des Aspromonte. Diese provinzielle Abgeschiedenheit, ihre sprichwörtliche Diskretion und das verdeckte Operieren hielt man früher für eine Schwäche, doch in Wirklichkeit liegt darin ihre Stärke, ihre Lebensader. Unter dem Deckmantel äußerer Armut und Bescheidenheit halten sie die Fäden eines globalen Verbrechersystems zusammen und setzen alles daran, dass ihre tatsächliche Rolle verborgen bleibt. Selbst die örtlichen Ermittler wissen oft nicht, wer der tatsächliche Machthaber ist.« Diese Beschreibung wurde illustriert durch das Foto eines Marktplatzes in einem ebendieser Dörfer, und man konnte darauf sehr gut sehen, was der Journalist gemeint hatte, wenn er von trostlosen Nestern sprach: Verbaute, schäbige Häuser, teilweise verlassen, mit zugenagelten Fenstern, drängten sich um einen leeren Platz. Hinter ihnen erhob sich schroff und abweisend eine kahle Felswand. Kein Geschäft, keine Bar, kein Restaurant. Im Vordergrund lungerten ein paar Jugendliche auf Mofas und Motorrädern herum. Misstrauisch und feindselig blickten sie in die Kamera. Darunter stand: »Kalabrien hat die höchste Arbeitslosenquote Italiens, bei den Jugendlichen liegt sie bei 28%. Die Aussicht, Mafioso zu werden, ist oft die einzige Aussicht, die sie haben.«
Clara starrte auf das Foto. Es fiel ihr nicht schwer, sich Angelo Malafonte unter diesen jungen Männern vorzustellen. Vor ein paar Jahren war er dort noch mit dem Mofa herumgefahren, voller Angst, dem Mädchen Chiara zu begegnen und an den kleinen Hund erinnert zu werden. Bricciola . Er hatte sich sogar den Namen des Hundes gemerkt.
»Die unsichtbare Seite des Mondes …«, murmelte Clara vor sich hin und las sich den Text noch einmal durch. In Gedanken versunken ging sie zum Fenster und schloss es wieder. »Das ist der Punkt, an dem ich ansetzen muss«, murmelte sie leise. »Wenn ich irgendetwas für Malafonte tun kann, dann nur an diesem Punkt.« Sie nahm den Bericht und pinnte ihn an die Wand neben ihrem Schreibtisch. Dann schob sie die übrigen Blätter und Fotografien auf einen Haufen zusammen und steckte sie zurück zwischen die Ordnerdeckel. Sie würde sie morgen wieder einheften. Für heute war es genug. Unschlüssig blieb sie einen Augenblick mitten in ihrem Wohnzimmer stehen und sah sich um. Das Zimmer, das sie immer so geliebt hatte, kam ihr heute fremd und leer vor. Sie bereute plötzlich, keine Vorhänge zu haben, die den dunkler werdenden Himmel aussperren konnten. So zeigten ihr die nackten Fenster ihr eigenes Spiegelbild, wie sie dort stand, allein in diesem
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