Das Gesetz Der Woelfe
großen, karg möblierten Raum. Drei Fenster hatte er, und ihr war das plötzlich zu viel. Sie fühlte sich wie auf einem Präsentierteller, von allen Seiten beobachtet, und warf einen furchtsamen Blick auf die dunklen Scheiben. Hastig knipste sie das Licht aus und verließ das Zimmer. Die Klinke rutschte ihr aus der Hand, als sie die Tür fest hinter sich zuzog, und das Geräusch ließ sie zusammenfahren. Es war so still. Im ganzen Haus war kein Geräusch zu hören. Also ob niemand außer ihr hier wohnte. Als ob sie ganz allein sei. Und die Nacht kam, und sie würde nicht schlafen und die Stille nicht ertragen können und gleichzeitig voller Panik auf jedes Geräusch achten, das von draußen kam: Schritte, die die Treppe heraufschlichen, eine Tür, die ins Schloss fiel, ein Motorrad, das vorbeifuhr … Clara ging ins Schlafzimmer und schloss dort das Fenster. Furchtsam blickte sie hinunter in die dunkle Toreinfahrt. Die Glühbirne, die Barletta gestern erneut zerschlagen hatte, war noch nicht wieder ersetzt worden. Clara kontrollierte auch die Fenster im Bad, in Seans Zimmer und in der Küche und blieb schließlich im Flur stehen. Die Wohnungstür machte ihr Angst. Wie war Barletta hereingekommen? Was, wenn er wiederkam? Sie trat an die Tür, vorsichtig, näherte sich ihr wie einem gefährlichen Tier und schloss zweimal ab. Dann drehte sie den Schlüssel quer, wie es ihre Großmutter immer gemacht hatte. Doch das Schloss schien ihr so mickrig, es bot so wenig Schutz. Wie war er hereingekommen? Was, wenn er wiederkam? Sie lief hastig zurück in die Küche, riss den Besenschrank auf, in dem sie einen kümmerlichen Werkzeugkasten aufbewahrte, der diese Beschreibung kaum verdiente, und holte einen Schraubenzieher und ein paar Schrauben heraus. Dann zog sie den Mülleimer unter der Spüle hervor und kramte darin herum, bis sie das Türschloss fand, das Mick ihr mitgebracht hatte. Mit klammen, ungeschickten Händen und einem Gefühl, als ob ihr ein böses Tier bereits im Nacken säße, schraubte sie das Schloss an die Wohnungstür. Als sie endlich die schwere Kette in die Schiene schob, ließ die Panik ein wenig nach. Wenigstens würde sie es hören, wenn er käme. Ob dies im Ernstfall etwas ändern würde, darüber wollte sie nicht nachdenken. Sie trug den Schraubenzieher zurück in die Küche. Bevor sie ihn in den Werkzeugkasten legte, wog sie ihn noch einen Augenblick in der Hand. Es fühlte sich gut an, so etwas in der Hand zu halten. Aber was würde sie damit anfangen? Zustechen? Clara ließ ihn zurück in den Kasten fallen. Dann holte sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Eigentlich hätte sie lieber einen Whiskey getrunken, aber die Flasche stand im Wohnzimmer, und dort wagte sie sich heute Abend nicht mehr hinein. Hier, in der engen, vollgestellten Küche mit dem kleinen Fenster fühlte sie sich sicherer. Sie setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie heute Morgen noch Mick gegenübergesessen hatte, und dachte unwillkürlich an die gestrige Nacht. Die Bilder drängten sich ihr auf, je mehr sie sich dagegen zu wehren versuchte, und irgendwann gab sie es auf. Sie überließ sich ihnen, während sie das Bier leer trank und sich ein neues holte und dann noch ein drittes und ihre Decke aus dem Schlafzimmer bugsierte, in die sie sich wickelte. Sie setzte sich wieder auf den harten Holzstuhl und blieb dort sitzen. Und irgendwann begann sie zu weinen, nicht laut und verzweifelt, sondern ganz leise, erschöpft und voller Trauer.
Nach einer unruhigen, mit wirren Träumen erfüllten Nacht erwachte Clara am nächsten Tag spät, dennoch wie gerädert und mit dumpfen Kopfschmerzen. Sie war es nicht gewöhnt, bei geschlossenem Fenster zu schlafen, und es war warm und stickig im Zimmer. Sie stand auf und öffnete das Fenster weit. Dann ging sie ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Bewegungslos und mit geschlossenen Augen ließ sie Wasser über sich strömen, das so heiß war, dass sie es gerade noch aushalten konnte. Dann drehte sie den Hebel herum bis zum Anschlag und zwang sich, stehen zu bleiben, obwohl ihr der eiskalte Regen, der sich jetzt über sie ergoss, den Atem nahm und ihr fast das Herz stehen blieb. Zitternd und zähneklappernd kletterte sie aus der Dusche und rieb sich trocken, bis ihre Haut brannte wie Feuer. Doch auch diese Rosskur half nicht: In ihrem Inneren blieb es dumpf und leer, und ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Es war ein Gefühl, als ob alles um sie herum im Nebel versunken wäre,
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