Das Gesetz Der Woelfe
Taschentuch noch immer an ihre Nase gepresst, öffnete sich die Tür zum Lokal, und der junge Kellner kam erneut herein. Er hob erschrocken die Hände, als er Clara so am Treppenabsatz stehend erblickte: »Signora, kann ich Ihnen helfen? Was ist passiert?«
»Oh!« Clara klappte den Mund auf und wieder zu. »Ich … äh. Nein. Die Toiletten?«, flüsterte sie dumpf unter ihrem Taschentuch hervor. Der Blick des Kellners wanderte von Clara zu den beiden Toilettentüren rechts von ihr. » Ecco, Signora.« Er deutete auf die Damentoilette. »Soll ich einen Arzt holen?«
»Oh, nein!« Clara schüttelte den Kopf und lachte nervös. »Das passiert mir andauernd. Schwache Blutgefäße, wissen Sie!« Sie drückte sich hastig an ihm vorbei in die rettende Toilette.
Als sie fünf Minuten später wieder bei Arno Pöttinger am Tisch auftauchte, klopfte ihr Herz immer noch wie nach einem 100-m-Sprint und ihr Kopf dröhnte. Doch das Nasenbluten hatte aufgehört, und sie war wieder einigermaßen sauber.
»Alles in Ordnung?« Pöttinger saß vor seinem leeren Weinglas und hatte sich eine von Claras Zigaretten genehmigt. Der Tisch war bereits abgeräumt. »Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte einen Suchtrupp nach dir losgeschickt. Was tun Frauen nur immer so lange …« Er unterbrach sich und sah Clara genauer an. »Wie siehst du denn aus? Bist du gegen die Wand gelaufen?«
»So ähnlich.« Clara brachte ein mattes Lächeln zustande. »Der Salat in diesem Lokal ist übrigens nicht zu empfehlen.«
KALABRIEN
Dammi rifuggiu
Chi sugnu latitanti
Gebt mir Schutz
Der ich ein Gejagter bin
Aus: »Omertà, Onuri e Sangu; Il Canto di Malavita«
Traditionelle Lieder der kalabresischen Mafia
Filippo de Caprisi schlief gut in dieser Nacht.
Keine Gespenster verfolgten ihn, und er wachte nicht ein einziges Mal auf. Das war ungewöhnlich. Seit zwei Jahren war dies so gut wie nicht mehr vorgekommen. Er hatte längst begonnen, den Schlaf zu hassen.
Wenn er nicht kommen wollte, ihn hinhielt, immer wieder einnicken und hochschrecken ließ, sodass er sich Stunde um Stunde ruhelos zwischen den nass geschwitzten Laken umherwälzte und schließlich aufgab und wieder aufstand. Und dann in dem großen stummen Haus umherwanderte, als wäre er längst selbst einer dieser Geister, die es bevölkerten.
Oder wenn er dann doch kam, der Schlaf, dann war er kein Freund, sondern ein hinterhältiger, boshafter Geselle, der ihm vorgaukelte, wieder gefangen zu sein. Der ihm weismachte, er läge längst im Grab, und niemand würde ihn herausholen, so sehr er auch schrie. Filippo hörte, wie die Leute Erde auf seinen Sarg schaufelten und der Pfarrer predigte. In manchen Nächten erzählte ihm der Schlaf auch, er habe seine Gliedmaßen verloren und läge nun hilflos im Dunkeln, nur ein Rumpf, unfähig zur kleinsten Bewegung. Spürst du es?, flüsterte der Schlaf ihm ins Ohr, spürst du deine Ohnmacht? Du liegst hier wie ein Stein. Erde wird auf deine Augen fallen, in deine Nasenlöcher und in deinen Mund, und du wirst sie nicht wegwischen können. Du wirst für immer so daliegen, für immer … für immer …
In solchen Nächten war es eine Erlösung, schreiend aufzuwachen. Filippo schrie und schrie und schrie und ließ sich von niemandem beruhigen. Nicht von den Schwestern in dem Krankenhaus, in dem er am Anfang einige Zeit gewesen war, nicht von der Ärztin mit der sanften Stimme und auch nicht von seiner nonna . Er wollte sich auch gar nicht beruhigen. Er war so froh, noch schreien zu können. Deshalb spuckte er auch die Tabletten jedes Mal aus, die sie ihm anfangs immer geben wollten. Er fürchtete, sie würden ihn so betäuben, dass er nicht schreien könnte, wenn dieser Traum zu ihm kam. Undenkbar der Horror, daliegen zu müssen und nicht aufwachen zu dürfen. Nicht schreien zu können. Es half auch nichts, dass die Ärztin ihm versicherte, mit den Tabletten würden auch die Träume wegbleiben. Wer konnte das behaupten? Niemand konnte in seinen Kopf kriechen. Dort drinnen war er völlig allein. Allein mit dem Schlaf, der ihm höhnisch zuflüsterte, mit dem Geruch nach Moder und Erde, der ihn würgen ließ, und mit den Bildern, die kamen und gingen, wie sie wollten. In letzter Zeit waren noch ein paar Bilder hinzugekommen. Das Gesicht seines Vaters zum Beispiel, blutüberströmt und irgendwie verändert, undeutlich, nicht vollständig. Filippo schloss im Traum jedes Mal die Augen, um nicht sehen zu müssen, was von dem
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