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Das Gesetz Der Woelfe

Titel: Das Gesetz Der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Gesicht noch übrig war und was nicht. Zerfetzt von einer Bombe . Und, in gnädigen Nächten, ein anderes Gesicht. Schmal und jung mit einem langen Kinn, schwarz vom Dreitagebart. Solche Nächte rochen nach Zigarettenrauch und schmeckten nach Teer. Und jedes Mal, wenn er aus diesem Traum erwachte, griff er als Erstes nach den Zigaretten, die in der Schublade seines Nachttisches lagen. Den Rauch tief inhalierend, lag er mit weit geöffneten Augen im Bett und versuchte, das Gesicht festzuhalten. Als könnte eine Zigarette den Traum Gestalt werden lassen. In der Nacht im Oktober, als er dieses Gesicht zum ersten Mal wiedergesehen hatte, war ihm auch die Idee gekommen. Er war aufgestanden und hatte sich an das Fenster gesetzt und rauchend hinunter auf nonnas Olivenbäume gestarrt. Es war Vollmond gewesen. Die Blätter der alten Bäume hatten silbrig geglänzt, und es hatte alles so ausgesehen, als ob es seine Richtigkeit hätte. Im unwirklichen Licht des Mondes konnte man das meterhohe Unkraut zwischen den Reihen knorriger Bäume nicht erkennen, die abgestorbenen Äste und all die Oliven, die faulend am Boden lagen. Niemand hatte sie geerntet dieses Jahr. Wie auch das vorherige nicht, und das kommende Jahr würden sie auch herunterfallen und im hohen Gras verschwinden. Die Olivenpressen standen schon lange still. Seit Filippos Vater gestorben war, waren die Arbeiter nicht mehr auf den Hof der Familie Caprisi gekommen, und neue Angestellte bleiben nicht länger als ein, zwei Tage. Zwei Tage. So lange brauchte er, um die fremden Arbeiter über die Situation aufzuklären. Und seine Argumente waren so überzeugend, dass niemand wagte, zu widersprechen und zu bleiben. Sie hatten schließlich Familie, die meisten, eine Freundin, Kinder, ein Haus, einen Hund … Und so zogen sie weiter. An einen anderen Ort, an dem es nicht lebensgefährlich war, Oliven zu ernten.
     
    Mit den Jahren war das Gut so immer stiller geworden, als ob ein Zauber darauf läge oder besser ein Fluch. Der Fluch der Caprisis. Er hatte das einmal so gesagt, vor vielen Jahren, ohne nachzudenken, irgendwo nachgeplappert. Und seine nonna hatte ihn scharf zurechtgewiesen: »Denke niemals, das alles sei unsere Schuld! Niemals, hörst du? Das ist kein Fluch, sondern das Werk von Verbrechern und Mördern. Hier in Kalabrien brauchen wir keinen Teufel und keine Dämonen, hier reichen uns die Menschen.«
    Filippo hatte stumm genickt und ihre Worte nicht vergessen. Er hatte in seiner kindlichen Vorstellungskraft seine eigenen Schlussfolgerungen daraus gezogen. Wenn es hier keinen Teufel gab, dann musste Kalabrien ein sehr besonderer Ort auf der Welt sein, denn im Religionsunterricht hatte er gelernt, dass der Teufel überall sei. Wenn dessen Arbeit aber hier bei ihnen von den Menschen erledigt wurde, dann gab es doch wohl auch keinen Gott hier? Das schien ihm logisch zu sein, denn Gott und der Teufel waren schließlich Gegenspieler. Und wenn sich der eine nicht für etwas interessierte, dann wohl auch nicht der andere. Das war also auch der Grund, warum sein Vater gestorben war. Es hatte keinen Gott gegeben, der es hätte verhindern können. Es interessierte Gott nicht, was hier, an diesem besonderen, an diesem finsteren Ort geschah.
    Filippo hörte von diesem Tag an mit dem Beten auf. Er weigerte sich, in den Religionsunterricht zu gehen, und machte einen großen Bogen um den Dom, sooft er daran vorbeimusste. Es erschien ihm zu lächerlich, was die Menschen hier trieben. Wie konnten sie nur so dumm sein, an etwas zu glauben, was es hier gar nicht gab? Seine nonna ließ ihn schließlich gewähren und ging in die Schule, um ihm eine Befreiung zu besorgen.
    »Sag ihnen, dass sie in der Kirche nur ihre Zeit verschwenden, es gibt doch gar keinen Gott hier«, hatte er ihr auf den Weg gegeben, und die nonna hatte ihn ganz merkwürdig angesehen, fast so, als ob sie weinen wollte. Das hatte ihn verwundert, denn sollte das bedeuten, dass sie davon bislang nichts gewusst hatte? Schließlich war sie es gewesen, die ihm den Tipp gegeben hatte.
     
    Daran musste Filippo denken, als er im letzten Herbst rauchend am Fenster gesessen und auf die Olivenbäume geblickt hatte. Das Gesicht aus seinem Traum war ihm noch deutlich vor Augen, und mit einem Mal wurde ihm klar, was das zu bedeuten hatte. Er selbst musste etwas unternehmen. Niemand anders würde es tun. Es gab niemanden, der sich dafür interessierte. So wie er sich damals seine Geschichte von Gott und dem Teufel

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