Das Gesetz Der Woelfe
ins Gefängnis geschickt oder einfach verschwinden lassen? Clara fiel die Sporttasche ein, die sie in der Besenkammer hatte liegen sehen. Vielleicht waren das Malafontes Habseligkeiten. Sie starrte nachdenklich aus dem Fenster und bemerkte plötzlich einen Mann, der auf der anderen Straßenseite stand und zu ihr herauf sah. Irgendetwas an der Art, wie er sie beobachtete, kam ihr merkwürdig vor, und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie dort oben ohne Vorhänge und im hellen Licht wie auf einem Präsentierteller stehen musste. Hastig trat sie einen Schritt auf die Seite. Als sie vorsichtig noch einen Blick nach unten warf, stand der Mann noch immer am gleichen Fleck und sah zu ihrem Fenster hinauf. Vorsichtig darauf bedacht, nicht wieder vor dem Fenster zu erscheinen, ging Clara, eng an die Wand gepresst, zurück zur Türe. Sie hatte die Hand bereits auf der Klinke, als sie Schritte hörte. Jemand kam die Treppe heraufgehastet. Clara erstarrte. Es war zu spät, um noch aus dem Zimmer zu flüchten, und wohin hätte sie auch gehen sollen? Sie würde der Person, die die Treppe heraufkam, unweigerlich in die Arme laufen. Sie drückte sich in die Ecke hinter der Tür und hoffte inständig, dieser Jemand würde etwas aus der Besenkammer holen. Doch ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Schritte kamen auf das Zimmer zu, eilig, fast laufend, und Clara durchfuhr der furchtbare Gedanke, dass der Mann auf der Straße, der sie beobachtet hatte, womöglich zur Pizzeria gehörte und jetzt heraufkam, um sie zur Rede zu stellen. Oder Schlimmeres. Clara konnte ihr Herz im Hals pochen hören, so heftig, dass ihr fast die Luft wegblieb. Die Tür wurde aufgerissen und prallte mit Wucht gegen ihre Nase. Ihr entfuhr unwillkürlich ein Schmerzenslaut. Doch nichts geschah. Die Tür wurde nicht wieder zurückgezogen, Clara wurde nicht herausgezerrt. Sie hörte ein leises Fluchen und Rascheln von Papier. Ihr Blick flog zum Fenster. Dort spiegelte sich der Raum gegen den dunklen Nachthimmel. Sie konnte den jungen Kellner sehen, wie er vor dem Salatkarton kniete und hastig die alten Salatköpfe nach einem noch halbwegs brauchbaren Exemplar durchwühlte. Und sie konnte sich selbst sehen, wie sie, platt wie eine Flunder und mit schreckgeweiteten Augen hinter der Tür stand. Ein Blick des jungen Mannes in Richtung Fenster, und er würde sie ebenfalls sehen. Clara fühlte, wie sich ihr Herzklopfen in ungeahnte Frequenzen steigerte, und die alten Geschichten von Damen aus dem vorvorigen Jahrhundert, die reihenweise vor Schreck in Ohnmacht gefallen waren, kamen ihr plötzlich gar nicht mehr lächerlich vor. Wenn sie nicht zwischen Tür und Wand eingezwängt gewesen wäre, hätte durchaus die Möglichkeit bestanden, dass ihr vor Angst die Füße wegsackten. Sie war so damit beschäftigt, sich die unbeschreiblichen Auswirkungen einer solchen Ohnmacht vorzustellen, dass sie gar nicht gleich bemerkte, dass der Kellner offenbar fündig geworden war. Sie sah sein Spiegelbild mit einem Kopfsalat in der Hand triumphierend aufstehen. Er zupfte noch hie und da ein welkes Blatt ab, während er hinausging und die Tür hinter sich schloss. Im gleichen Moment gaben Claras Beine tatsächlich nach, und sie ging leise stöhnend in die Knie. Ihr Kopf dröhnte von dem Schlag durch die Tür, und kleine rote Tropfen auf dem Boden sagten ihr, dass ihre Nase blutete. »Na toll, Clara Niklas«, schimpfte sie leise mit sich. »Der Ausflug hat sich ja gelohnt.« Sie blieb in der Hocke, während sie aus ihrer Hosentasche ein Taschentuch hervorkramte und es sich unter die Nase hielt. Sie legte den Kopf zurück. Hinter ihrer Stirn pochte es, und sie konnte spüren, wie das Blut durch die Nase in den Rachen zurücklief. Sie schluckte den metallischen Geschmack hinunter und stand vorsichtig auf. Ihre Beine gehorchten ihr wieder. Mit einem weiteren Taschentuch wischte sie die Blutflecken auf dem Boden sorgfältig auf. Dabei fiel ihr Blick auf einen kleinen Zettel, der halb unter der Fußbodenleiste in der Ecke klemmte. Sie stopfte das Taschentuch in ihre Hosentasche und zog mit spitzen Fingern das Papier heraus. Es war eines dieser kitschigen bunten Heiligenbildchen, die einem in Italien oft die Bettler als Dank für eine milde Gabe schenkten. Clara starrte eine Weile nachdenklich darauf, dann schob sie es ebenfalls in ihre Hosentasche. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen zu verschwinden. Keine Minute zu früh. Gerade als sie die letzte Stufe hinunterstieg, das blutige
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