Das Gesetz Der Woelfe
an einer jungen Frau und deren Geliebten gekommen. Der Mörder war nicht der gehörnte Ehemann, sondern dessen Bruder gewesen, der die Ehre der Familie wieder hatte herstellen wollen. Clara wusste nicht mehr genau, wie der Bruder bestraft worden war, jedenfalls war es eine lächerliche Strafe gewesen.
Clara ging langsamer. Paradoxerweise wurde ihr wohler bei dem Gedanken, dass Angelo womöglich eine verheiratete Frau geschwängert haben könnte und auf der Flucht vor dem Ehemann und dessen Familie war. So bekam seine Angst ein Gesicht, das menschlich war, verständlich, in gewisser Weise nachvollziehbar. Nicht mehr diese namenlose Bedrohung, die Clara jedes Mal verspürte, wenn sie die Panik in seinen Augen sah und von der sie meinte, auch bei Rita heute gestreift worden zu sein, wie von einem kühlen Windhauch, der durch das offene Fenster weht und einen unwillkürlich frösteln und die Schultern heben lässt. Kein Wunder, dass die Leute der Pizzeria Napoli nichts mehr mit Angelo zu tun haben wollten, wenn dies bedeutet hätte, dass ihnen von einem tollwütigem Ehemann und seinen Brüdern womöglich das Lokal zertrümmert worden wäre. Vielleicht hatten sie Angelo bereits aufgestöbert, als es zu der Razzia wegen des Rauschgifts kam, und die beiden Sachen hatten gar nichts miteinander zu tun. Oder aber … Clara blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen und starrte abwesend in die Luft. Ihr war etwas eingefallen. Eine Nebensächlichkeit, die sie bisher nicht weiter beachtet hatte. Ein Name, nur ein weiterer Name. Und doch war es möglich, dass er von Bedeutung war. Sie musste noch einmal mit Malafonte sprechen. Und mit Massimo Moro. Mit dem ganz besonders.
Zuhause angekommen streifte Clara mit einem Seufzer der Erleichterung ihre Schuhe von den Füßen und ließ sich ein heißes Bad einlaufen. Ein ruhiger Abend ohne Arbeit, ohne Aufregung, ohne Rätselraten, das war es, was sie sich ersehnte wie einen Schluck Wasser in der Wüste.
Später, auf der Couch vor dem Fernseher mit Elise neben sich, deren Kopf schwer auf ihren Füßen lag, fiel ein großer Teil der Anspannung der letzten Tage von Clara ab. Selbst Seans Abwesenheit schien weniger bestürzend als noch einen Tag zuvor. Eine leise Ahnung davon, dass sie sich irgendwann einmal sogar daran gewöhnen könnte, einen erwachsenen Sohn zu haben, der eigene Wege ging, schlich sich auf leisen Sohlen in ihr entspanntes Gemüt und nistete sich dort ein. Clara zappte durch die Programme, ohne etwas von den Dingen aufzunehmen, die in schneller Folge vor ihren Augen vorbeiflimmerten. Schließlich schaltete sie den Fernseher ab und griff nach dem Buch, das bereits seit über einer Woche aufgeschlagen auf dem Couchtisch lag. Ein altmodischer Krimi mit zahlreichen Verdächtigen in beschaulicher englischer Dorfidylle, das war genau das Richtige. Clara liebte die schrulligen, überzeichneten Landlords und Ladys, deren unbedarfte Dienerschaft und den überlegenen, gut aussehenden Kriminalkommissar. Sie genoss die feine Ironie, mit der die Figuren gezeichnet waren. In ihrer Gesellschaft fühlte sie sich immer warm und geborgen, ganz unabhängig davon, wie viele grässliche Morde dort auch passierten und welche seelischen Abgründe sich auftaten. Sie war nur die Betrachterin, saß im tiefen, mit kariertem Stoff bezogenen Lehnsessel des alten Herrenhauses neben dem prasselnden Kamin, die Jagdhunde zu ihren Füßen, und sah zu, wie draußen vor den Butzenscheiben die Stürme tobten.
Plötzlich hob Elise mit einem Ruck den Kopf. Sie lauschte einen Augenblick angestrengt auf etwas, das nur sie hören konnte, dann sprang sie mit einem Satz von der Couch und lief auf den Flur. Clara hörte sie kurz bellen, laut und aufgeregt, dann begann sie zu knurren. Clara ging hinaus und legte dem Hund beruhigend ihre Hand auf den Kopf und spähte wie vergangene Nacht vergeblich durch den Sucher in den leeren Hausgang. Schließlich überwand sie ihre Furcht, packte Elise fest am Halsband und öffnete die Tür einen Spalt breit. »Hallo?« Ihre Stimme hallte ängstlich durchs Treppenhaus. Keine Antwort. In dem Moment riss Elise sich los und raste die Treppe hinunter. Clara rief vergeblich nach ihr. Nur ihr aufgeregtes Bellen war zu hören. Zögernd drückte Clara auf den Lichtschalter und folgte ihr so leise wie möglich. Elise stand an der Haustür und kratzte mit ihren breiten Vorderpfoten an der Klinke. Clara zog sie mit einer gewissen Kraftanstrengung zurück. »Sag mal, hast du sie
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