Das Gesetz Der Woelfe
nicht mehr alle?«, schimpfte sie, doch es klang nicht sehr überzeugend. Ihre Stimme zitterte. Mit weichen Knien ging sie hinauf zu ihrer Wohnung. Sie erschrak, als sie sah, dass sie die Tür weit offen stehen gelassen hatte. Was, wenn die Person, über die sich Elise so erregt hatte, nicht nach unten, sondern nach oben in den zweiten Stock gelaufen war und jetzt hinter der Tür auf sie wartete? Clara blieb stehen. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Dann warf sie einen Blick auf Elise, die völlig entspannt die letzten Treppenstufen erklomm und in ihren Hausflur trabte. Das beruhigte Clara, und sie hastete ihr nach. Rasch schloss sie die Tür und drehte den Schlüssel zweimal um. Der gemütliche Abend war dennoch verdorben. Die Lust auf englische Krimilektüre war ihr vergangen. Stattdessen zog Clara die Akte Malafonte noch einmal aus ihrer Tasche und nahm sie mit auf die Couch. Aufmerksam las sie das Aussageprotokoll von Massimo Moro, und tatsächlich, sie hatte sich nicht geirrt: Dort auf der wiedergefundenen zweiten Seite stand neben Angelo Malafonte noch ein zweiter Name, den Moro preisgegeben und den Clara bisher vollkommen vernachlässigt hatte: Gaetano Barletta. Angeblich ein Lieferant Malafontes, obwohl Moro sich dabei nicht sicher schien. Jedenfalls einer, der Malafonte kannte. Ein Freund? Oder etwa der Feind, nach dem sie suchte? Clara blätterte weiter, fand jedoch keinen weiteren Hinweis auf Gaetano Barletta. Auch nicht darauf, ob gegen ihn ebenfalls ein Verfahren eingeleitet wurde. Sie notierte sich die angegebene Adresse von Massimo Moro und beschloss, morgen dort vorbeizuschauen. Sie würde ja sehen, ob dieser Zeuge so »unauffindbar« war, wie Oberstein gemeint hatte. Und dann würde sie noch einmal ins Gefängnis müssen, um Malafonte zu sprechen.
Als sie ins Bett ging, warf Clara noch einmal einen Blick auf die Haustür und drückte prüfend die Klinke herunter. Das Licht in ihrem Flur ließ sie brennen. Erst sehr viel später, nachdem sie sich eine ganze Weile schon unruhig im Bett umhergewälzt hatte, fiel ihr auf, dass Malafontes Angst dabei war, auch sie einzuholen. Es war kein gutes Gefühl.
Clara überprüfte noch einmal unsicher die Adresse, als sie vor dem Haus angekommen war. Doch es war kein Zweifel möglich: Die herrschaftliche Villa im besten Teil Bogenhauses war laut Akte Massimo Moros Wohnanschrift. Wie passte das zu Malafontes schäbigem Zimmer oberhalb der Pizzeria Napoli? Clara las das kleine Schild an der Klingel, auf dem in edel geschwungener Schrift Johannes Simoneit stand. Nichts weiter. Kein Hinweis auf Moros Anwesenheit. Vielleicht hatte Richter Oberstein recht gehabt, und Moro war längst schon wieder in Italien oder hatte hier nie gewohnt. Clara kam der Name Simoneit irgendwie bekannt vor, sie konnte sich aber nicht erinnern, bei welcher Gelegenheit sie ihn schon einmal gehört hatte. Vorsichtig spähte sie durch die Gitterstäbe des hohen Tores. Üppige Fliederbäume, Pfingstrosen und Hortensienbüsche säumten die sorgfältig geharkte Einfahrt. Zwischen den Pflanzen lugten Marmorstatuen hervor, Putten, griechische Jünglinge, und im Hintergrund auf dem gepflegten Rasen plätscherte ein Brunnen in Form einer Muschel, die das Wasser durch das Maul eines dicken Fisches empfing. Claras Zweifel, ob es angebracht war, hier ohne jede Voranmeldung zu erscheinen, verstärkten sich. Doch es war nicht mehr zu ändern. Sie hatte keine Lust, den ganzen Weg inklusive der für sie wie immer nervenaufreibenden U-Bahn-Fahrt umsonst gemacht zu haben. Aber sie war froh, dass sie wenigstens Elise bei Willi in der Kanzlei gelassen hatte. Sollte ihr überhaupt Einlass in dieses herrschaftliche Anwesen gewährt werden, so hatte sie definitiv die besseren Chancen ohne ein fröhlich sabberndes, mittelgroßes Kalb an ihrer Seite. Rasch fuhr sie sich mit den Händen über ihre Haare und versuchte, sie glatt zu drücken. Dann zog sie ihren dunkelgrünen Blazer gerade und knöpfte ihn ordentlich zu, bevor sie energisch auf die Klingel drückte. Ein knapper Summton erklang am Gartentor, ohne dass die Sprechanlage ertönte. Clara drückte das Tor auf und ging rasch auf das Haus zu. Der betörende Duft der blühenden Pfingstrosen stieg ihr in die Nase. Die Tür öffnete sich in dem Moment, in dem sie den Fuß auf die unterste Schwelle setzte. Ein großer schlanker Mann stand vor ihr und hob fragend die Augenbrauen. »Ja bitte?«
Clara starrte ihn an. Er war Anfang, Mitte sechzig, wirkte
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