Das Gesetz Der Woelfe
nebenan mit ihrem Pudel bei ihrem täglichen Nachmittagskaffee in der Ecke. »Wegen dem Jungen, Malafonte …« Sie brach ab.
»Ja. Und weiter?«
»Es ist nicht so, dass du dich mir verpflichtet fühlen sollst, weil ich ihn dir vermittelt habe, hörst du?«
»Aber das tue ich nicht.« Clara verstand noch immer nicht, was Rita meinte. »Er ist mein Mandant, ich vertrete ihn. Was meinst du?«
Rita stand auf und deutete mit einer ungeduldigen Handbewegung auf Claras Gesicht. »Ich meine, du solltest nicht die Heldin spielen, du hast ja keine Ahnung, wie gefährlich das sein kann!« Dann nahm sie Claras Teller und ging eilig hinter die Theke zurück.
Clara starrte ihr verblüfft nach. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Rita hatte ihre Geschichte mit der Tür, gegen die sie gelaufen war, nicht geglaubt, wobei Clara wohlweislich verschwiegen hatte, dass sich diese Tür im ersten Stock einer Pizzeria befand und sie dort nichts zu suchen gehabt hatte. Aber … glaubte sie tatsächlich, jemand hätte sie angegriffen? Geschlagen? Wegen Malafonte? Clara sprang auf: »Rita! Was weißt du über Angelo Malafonte?« Sie lief zu ihr hinter die Theke. »Du musst es mir sagen! Bitte! Was ist so gefährlich?«
Rita hatte sich schon wieder gefasst. Sie strich Clara mit einer liebevollen Geste ein paar Strähnen aus der Stirn und lächelte. »Nichts, cara , gar nichts. Hör nicht auf mich. Es war Unsinn, was ich eben gesagt habe. Ich bin eben immer so eine mamma , sogar bei dir, ich kann nichts dafür. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.« Sie holte eine Tasse aus dem Regal »Cappuccino? Geht aufs Haus.«
Clara starrte sie an. Dann nickte sie stumm und ging zurück zu ihrem Tisch am Fenster. Sie glaubte Rita kein Wort. Es war ihr ganz und gar ernst gewesen mit dieser Warnung, egal, auf welche Weise sie jetzt versuchte, es herunterzuspielen. Doch weitaus mehr als ihre Worte zuvor hatte Clara Ritas Gesichtsausdruck erschreckt, als sie sich bemüht hatte, so zu tun, als wäre nichts gewesen: Clara hatte in Ritas Augen dieselbe hilflose, stumme, verzweifelte Leere gesehen, mit der Malafonte versuchte, seine Angst zu verbergen.
Als Clara an diesem Abend mit Elise nach Hause ging, grübelte sie noch immer über Ritas merkwürdiges Verhalten nach. Willi hatte sie auf ein Bier bei Murphy’s überreden wollen, doch sie hatte dankend abgelehnt. Die Schwellung an ihrer Nase ging zwar langsam zurück, aber trotzdem war ihr nicht nach Kneipe und Musik zumute. Sie sehnte sich nach einem gemütlichen Abend und nach viel Schlaf. Die hübsche Kirche, von der Clara nach all den Jahren, in denen sie in diesem Viertel arbeitete, noch nicht einmal den Namen wusste, schlug sechs Uhr. Clara war dankbar, dass es nicht regnete, und beschleunigte ihren Schritt. So oft wie möglich ging sie die Strecke ihres Heimwegs zu Fuß, so bekam Elise ihren Auslauf und Clara den Kopf frei. Doch heute nutzte sie den forschen Spaziergang nicht, um sich zu entspannen, sondern um ihre Gedanken zu ordnen. Wie passten all diese Dinge ins Bild? Was wusste Rita von Angelo Malafonte, und warum erzählte sie es ihr nicht? Immerhin war es sie gewesen, die ihn zu ihr geschickt hatte. Clara hielt es für vollkommen ausgeschlossen, dass Rita und Malafonte zusammen in irgendetwas verwickelt waren. Sie war gut an die fünfzig und ein Ausbund an Anständigkeit. Aber trotzdem wusste sie etwas über ihn. Etwas sehr Beunruhigendes, das nicht nur ihm, sondern auch ihr Angst machte. Es musste etwas sein, das in Italien seinen Ursprung hatte, da war sich Clara ziemlich sicher. Aber warum wagte Rita, die seit so langen Jahren schon in Deutschland lebte, nicht, mit ihr darüber zu sprechen? Oder war es am Ende gar keine Angst, die Clara gesehen hatte, sondern Scham? Zurückhaltung, die Befürchtung, Clara könnte das Problem nicht verstehen? Vielleicht eine Familiengeschichte. Hatte Rita nicht gesagt, sie und Angelos Mutter wären befreundet? Oder verwandt? Clara konnte sich nicht mehr genau erinnern und nahm sich vor, Rita morgen noch einmal danach zu fragen. Frauengeschichten? Eine sitzengelassene Freundin vielleicht, schwanger … irgendein Skandal. Das würde Ritas Schweigen erklären, denn sie war trotz ihrer blondgefärbten Haare und den hautengen Miniröckchen erstaunlich prüde und altmodisch. Gab es so etwas wie Blutrache noch in Italien? Clara meinte, sich zu erinnern, dass sie davon gehört hatte. Auf Sizilien war es vor nicht allzu langer Zeit zu einem »Ehrenmord«
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