Das Gesetz Der Woelfe
genau wusste sie Bescheid, dass sie deren Angst nicht nur hören, sondern unmittelbar fühlen konnte. Ihr Herz krampfte sich zusammen, es wurde wieder ihre eigene Angst, wurde ihre Panik, ihr Lauschen nach draußen in die Dunkelheit, ihre furchtsamen Blicke in die Gesichter ihrer damaligen Nachbarn. Was wussten sie? Wer waren sie wirklich? Was war beschlossen worden in den kleinen Hinterzimmern, in den Bars, so nebenbei, bei einem Glas Rotwein? Rita richtete sich auf. Sie zog ihre ärmellose Bluse zurecht, die sich über ihren Brüsten spannte, und warf das blutbefleckte Handtuch zu den Scherben im Mülleimer. Von dem kleinen Schnitt an ihrem Finger war nichts mehr zu sehen. Sie strich sich mit den Händen ihre blondgefärbten Haare aus dem Gesicht und zündete sich eine ihrer langen, dünnen Zigaretten an. Dann vertiefte sie sich wieder in die Lektüre ihrer Zeitung und die Idiotien der italienischen Regierung, bereit zu einem verächtlichen Fluch über diese Staatsmacht und ihre lächerlichen Spiele, die nichts zu tun hatten mit dem wirklichen Leben, wie sie es gekannt hatte.
Wie immer jagte Clara das Gefängnisgebäude auch dieses Mal Angst ein. Selbst wenn es wie heute von der Nachmittagssonne freundlich angestrahlt wurde, haftete ihm dennoch etwas Düsteres, Beklemmendes an, über das die wärmsten Frühlingsfarben nicht hinwegtäuschen konnten. Das abweisende Tor, die hohe graue Betonmauer. Am meisten bedrückte sie, dass man nicht sehen konnte, was sich hinter dieser Mauer verbarg. Man ging darauf zu, wusste, dass sich dahinter das Untersuchungsgefängnis befand, doch man sah es nicht. Man sah nur diese hohe, glatte Mauer, die nichts preisgab von dem, was dahinter geschah.
Sie ging an die Pforte und hielt ihren Anwaltsausweis an die Scheibe. Der Beamte führte sie mit einem kurzen Nicken in den kleinen, engen Raum, der den Verteidigern und ihren Mandanten vorbehalten war, und bat sie zu warten. Es war stickig und roch nach Rauch. Clara versuchte, die geschlossene Tür zu ignorieren. Ihr Blick wanderte hypnotisch an den abgestoßenen Kanten des Tisches entlang. Der Tisch erinnerte sie an ihre Schulzeit und an den Physiksaal. Linoleumböden, verbrauchte Luft und das eintönige Gemurmel des Lehrers, während draußen die Sonne vom blauen Sommerhimmel strahlte. Der Physiklehrer hatte immer mit dem Rücken zu den Schülern an der Tafel gestanden, während er Formeln aufzeichnete und erklärte. Offenbar interessierte es ihn nicht, ob seine Schüler zuhörten oder schliefen oder sonst etwas taten. Er hatte sich auch nie Mühe gegeben, die ständige Geräuschkulisse hinter ihm zu übertönen. Er hatte einfach immer nur an der Tafel gestanden und leise vor sich hin murmelnd mit kurzen, zackigen Bewegungen Zahlen und Kürzel aufgeschrieben, die dann in der nächsten Arbeit gnadenlos abgefragt wurden. Claras beste Note bei ihm war eine Vier gewesen.
Angelo Malafonte ließ auf sich warten. Sie holte tief Luft, einmal, zweimal und schloss für einen Moment die Augen. Der Physiksaal und das Zimmer verschwanden aus ihrem Bewusstsein. Sie versuchte, an Wasser zu denken, fließendes Wasser, die Isarauen, kühle Luft, das Rauschen der Bäume. Sie hielt ihre Augen so lange geschlossen, bis ihre Atmung ruhiger wurde und ihr Herzschlag sich wieder verlangsamte. Dann zog sie ihre Unterlagen heraus und las noch einmal das Protokoll von Massimo Moros Vernehmung. Zwischen den Zeilen, immer dort, wo Band defekt stand, hatte sie eingefügt, was nach Moros Angaben dort stehen müsste. Im Zusammenhang gelesen, in Verbindung mit den zögernden, unsicheren Antworten des jungen Italieners, war die Wirkung von Obersteins Drohungen und Beleidigungen fast noch ungeheuerlicher als in Massimos eigenen Worten. Sie bekamen so ein offizielles Gesicht, wurden amtlich, auch wenn die Worte nur mit Bleistift dazwischengekritzelt waren. Clara seufzte, als sie daran dachte, dass sie nicht mehr hatte, um es dem Richter vor die Nase zu halten. Sie hatte nichts, was gegen ihn verwendet werden konnte, außer einen Verdacht, der sich auf zwei fehlende Seiten begründete und den Oberstein mit einer gelangweilten Handbewegung beiseitewischen konnte. Und das sogar zu Recht. Sie selbst würde solche Anschuldigungen in der Luft zerreißen, wenn sie ohne vernünftigen Beweis einem ihrer Mandanten vorgehalten würden. Und Beweise hatte sie nicht. Sie würde die offizielle Aussage Moros nicht bekommen, um dagegenzuhalten. Kein Wort von dem, was er ihr gesagt
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