Das Gesetz Der Woelfe
würde er ihn nie wieder vergessen. Genauso wenig wie er vergessen würde, wie er unten in San Sebastiano angelangt war, damals. Er hatte nicht mehr laufen können. Auf einen kurzen Stock gestützt, war er über die Hauptstraße gekrochen und schließlich an der kleinen Mauer zusammengebrochen. Keinen Schritt weiter konnte er mehr, obwohl er sich so fest vorgenommen hatte, bis nach Hause zu gehen. Doch er hatte es nicht geschafft. Es waren einige Leute vorbeigekommen, er konnte sich an ihre Schuhe erinnern. Weiße Schuhe einer Frau mit dicken Füßen. Schwere Arbeitsschuhe und blaue, staubige Hosenbeine. Feine Schuhe aus Leder. Keiner von denen hatte ihn angesprochen oder ihm aufgeholfen, alle waren nach einem kurzen Zögern weitergegangen.
In Patì, nicht weit von San Sebastiano, hatten die Dorfbewohner eine Geisel, der es gelungen war zu fliehen, zu ihren Entführern zurückgebracht. Daran hatte Filippo gedacht, als er dort mitten im Staub gekauert hatte an der kleinen Mauer oberhalb des stillen Platzes mit den drei Pinien und dem rosa Rathaus. Und dann war er weitergegangen. Den Blick gesenkt, um keinen sehen zu müssen, um keinem einen Vorwand liefern zu müssen, nach dem Handy zu greifen und ihn anzurufen. Niemand sprach ihn an, niemand hielt ihn auf. Es war, als ob nur er existierte in San Sebastiano, alles andere war Kulisse. Statisten, die hierhin und dorthin liefen, weil es ihnen jemand so befohlen hatte, Publikum, das still wartete, bis jemand das Zeichen zum Beifall gab. Doch dieses Zeichen kam nie. Er schleppte sich die Hauptstraße entlang, bog in die steile Gasse ein, die in Treppen nach oben führte und in die Straße nach Hause mündete. Eine Stufe. Noch eine. Langsam begannen die Kulissen zu verblassen. Sie verloren an Kontur, schwankten hin und her, alles schien zusammenzubrechen. Das Publikum war verschwunden, kein Wunder, alle waren geflohen vor den einstürzenden Wänden. Die nächste Stufe kam auf ihn zugesprungen, der Himmel drehte sich im Kreis, und ein harter Schlag ließ den Vorhang fallen.
Sie hatten ihn nicht zurückgebracht zu seinen Peinigern. Nachdem er bewusstlos geworden war, hatte irgendjemand die Baronessa angerufen und ihr mitgeteilt, dass ihr Enkel auf den Stufen der Calle del Cielo liege. Nichts weiter. Sie wussten bis heute nicht, wer der Anrufer gewesen war. Was folgte, war ein langer Dämmerschlaf, der ihn wie ein Freund beschützt hatte. Später, viel später hatte er seine nonna nach den Zeitungen gefragt, und anders als bei der Geschichte mit seinem Vater hatte sie nicht versucht, etwas vor ihm zu verbergen. Alle Blätter der vergangenen Monate hatte sie ihm auf das Bett gelegt, säuberlich geordnet nach Datum. Er hatte alles über sich und seine Entführung gelesen, hatte sein Foto dutzende Male in verschiedenen Zeitungen gesehen und hatte erfahren, dass seine Freilassung dem »Druck« zu verdanken war, den die Politiker den Verbrechern gemacht hätten. Doch wer die Entführer gewesen waren, welche Anstrengungen zu deren Ergreifung unternommen wurden und weshalb er entführt worden war, darüber hatte keine Zeile in den Blättern gestanden. Mochte man den Zeitungen glauben schenken, war dies eine Einzeltat einiger Krimineller von außerhalb, die, in Unkenntnis über die »wahren Verhältnisse«, der Meinung gewesen waren, bei der Baronessa sei Geld zu holen.
Doch natürlich glaubte den Zeitungen niemand. Man wusste es besser hier in der Region um den Aspromonte. Zu viele waren schon verschwunden in den unwirtlichen Bergtälern, in die meist nicht mal ein Weg, geschweige denn eine Straße führte und in denen, so sagte man, noch immer Wölfe lebten. Die meisten der Verschwundenen waren nie wieder aufgetaucht. Und so kam es, dass Filippo zu allem, was die Geschichte seiner Familie schon zu seiner Außenseiterrolle beigetragen hatte, noch dazu den Ruf eines »Davongekommenen« erhielt, womit er sich jedoch keineswegs Freunde machte. Es fügte der Ablehnung und dem Misstrauen, das ihm für gewöhnlich entgegenschlug, lediglich noch eine Prise Furcht hinzu. Was hatte er gesehen? Wen hatte er erkannt? Wie war es ihm tatsächlich gelungen zu entkommen? Filippo hatte sich der Polizei gegenüber beharrlich darüber ausgeschwiegen. Er könne sich an nichts mehr erinnern, hatte er immer wiederholt. Und es war ihm dabei nicht schwergefallen, überzeugend zu wirken.
Sein Instinkt war es gewesen, der ihn dazu gebracht hatte, die Umstände seiner Freilassung gegenüber der Polizei
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