Das Gesetz Der Woelfe
Fußball-Nationalmannschaft, boten ihr jedoch noch immer vortreffliche Unterhaltung. Die deutsche Politik, in der die Dinge zumindest zu funktionieren schienen, war aus ihrer Sicht nur ein sehr unzureichender Ersatz für die erheblich saftigeren Korruptionsskandale, der Vetternwirtschaft und den behördlichen Verschleppungsmethoden in ihrem Heimatland.
Jetzt richtete sich Rita von ihrer Lektüre auf und sah Clara besorgt an: »Ist etwas passiert?«
»Nein, wieso?« Clara erwiderte Ritas Blick gleichmütig. »Was soll passiert sein?«
»Ich meine nur, weil du ins Gefängnis fährst.«
»Es ist meine Aufgabe, Mandanten im Gefängnis zu besuchen.«
Rita senkte ihren Blick wieder auf die Zeitung, doch sie las nicht. Clara bemerkte, dass ihre Hände nervös an dem glänzenden Gürtel ihres Rockes herumnestelten. »Es geht ihm doch gut? Angelo?«
»Mmh.« Clara blickte interessiert dem Rauch nach, der von ihrer Zigarette nach oben stieg. »Wie es einem eben so geht, in einer so beschissenen Lage.«
»Aber … er wird doch … er ist doch …« Rita verstummte, doch Clara wusste genau, was sie hatte sagen wollen und nicht sagen konnte, ohne weitere Fragen zu provozieren. Doch dieses Mal wollte Clara sie nicht so einfach davonkommen lassen. »Du meinst, ob er dort sicher ist, nicht wahr?« Clara sprach noch immer gleichmütig, als ob sie sich über das Wetter unterhielte, und ignorierte den alarmierten Blick, den Rita ihr jetzt zuwarf. Ohne Ritas Reaktion zu beachten, fuhr sie fort: »Na, jedenfalls geht es ihm bis jetzt noch besser als einem Freund von ihm, der wurde ziemlich übel zugerichtet. Er hat praktisch kein Gesicht mehr.«
Ritas Kaffeetasse, die neben der Zeitung gestanden hatte, zerschellte klirrend auf den Bodenfliesen.
»Oh, was für ein Pech!« Clara beugte sich über den Tresen und sah Rita dabei zu, wie sie rasch die Scherben mit den Händen aufsammelte. Als sie sich wieder aufrichtete, sah Clara ihr direkt ins Gesicht. Jetzt gelang es ihr nicht mehr, den Zorn in ihrer Stimme noch länger zurückzuhalten: »Es ginge Angelo jedenfalls um einiges besser, wenn er nicht vollkommen allein wäre und wenn, verdammt noch mal, irgendjemand mir endlich die Gelegenheit geben würde, ihm zu helfen.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Meinst du also nicht, ich sollte ihm irgendetwas ausrichten?«
Rita biss sich auf die Lippen. Ihre Hände umklammerten die Scherben. Ein spitzes Stück hatte ihren Finger verletzt und sie blutete, doch weder Clara noch Rita beachteten es. Obwohl Rita sichtlich mit sich kämpfte, blieb sie stumm, und schließlich wandte sich Clara mit einer resignierten Handbewegung ab, ohne sich zu verabschieden. Erst nachdem Clara die Bar verlassen hatte, löste sich Rita aus ihrer Erstarrung und warf mit einer schwerfälligen Handbewegung die Scherben in den Mülleimer. Dann wickelte sie ein Handtuch um ihren blutenden Finger und setzte sich auf den Hocker hinter dem Tresen. Sie stützte ihren Kopf auf ihre unverletzte Hand und seufzte. »Hört das nie auf?«, murmelte sie, und eine alte, hoffnungslose Verzweiflung brach aus dieser Frage heraus, eine Verzweiflung, die seit Jahrhunderten die Menschen in der Gegend, aus der sie stammte, dazu brachte zu resignieren, stumm zu werden und wegzusehen, wo eigentlich ihr Mut und ihre Tatkraft gefordert wären. Tugenden, die längst verschluckt worden waren. Gefressen von diesem vielarmigen Ungeheuer mit den tausend Leben, das vor keiner Grenze Halt machte. Nicht vor den Grenzen der Gesetze und Staaten und erst recht nicht vor den Grenzen in den Herzen der Menschen. Unersättlich fraß es Mut und Anstand, Loyalität zwischen Freunden und Familien und hinterließ nichts als eine öde, angsterfüllte Stille. Eine Stille, in der nur ein Gespenst sein Unwesen treiben konnte: Verrat.
Rita hatte geglaubt, dem allen entkommen zu sein. Vor so vielen Jahren schon. Bis eines nachts, irgendwann letztes Jahr, dieser Anruf kam. Sie hätte auflegen sollen. Sofort, als sie erkannte, wer dort am anderen Ende sprach, weinend, schluchzend, in Panik. Sie hätte Nein sagen sollen, als die Stimme sie um Hilfe bat, sie anflehte, um der alten Freundschaft willen, sie hätte die Ohren verschließen sollen. Alles kehrte wieder zurück. Es holte sie ein, wohin sie auch ging. Sie konnte nicht entkommen. Niemand kann jemals entkommen. Sie hatte nicht Nein gesagt. Sie hatte Mitleid gehabt. Und so viel Verständnis. Sie wusste genau, wovon die Stimme aus der Vergangenheit sprach. So
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