Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
annehmen, für den Fall, dass dieser genetische Irrtum ein weiteres Mal die Gelegenheit ergreift?«
»Nicht sofort. Ich möchte gern herausfinden, wie und warum ...« Suvaïdar hielt inne und schwieg, die Stirn in Falten gelegt, während Tarr geduldig darauf wartete, dass sie ihr Hirngespinst beendete. »Glaubst du, dass Néko fähig wäre, etwas ins Essen der Saz Adaï zu tun? Sie isst meist in ihrem Zimmer.«
»Du willst sie vergiften? Das wäre gegen eurer heiliges Sh’ro-enlei.«
»Nein. An dem Tag, an dem ich beschließe, jemanden zu töten, werde ich ihm gegenüberstehen. Dass man es so und nicht anders macht, hat mir vor nicht allzu langer Zeit eine gewisse Person vor Augen geführt. Ich möchte, dass sie ein Medikament nimmt, das für ihr Wohlbefinden unschädlich ist. Wir verwenden es, um Patienten zu betäuben, die auf eine Akupunktur nicht reagieren.«
»Ich muss gar nicht wissen, worum genau es geht. Ich verspreche dir, dass Néko der Alten auf die eine oder andere Weise etwas ins Essen mischt – mit List oder mit Gewalt. Néko wendet zwar lieber Gewalt an, aber sie gehorcht meinen Anweisungen.«
Suvaïdar bedankte sich höflich und eilte zur Apotheke des Hospitals, um den Cocktail vorzubereiten, der für die ehrwürdige Mutter ... nein, für die alte Odavaïdar Huang bestimmt war. Nach dem, was vorgefallen war, konnte sie nichts Ehrwürdiges mehr an ihr finden.
Néko nahm ohne die geringste Neugier die Holzphiole.
»Das schmeckt nach nichts. Wenn du es schaffst, das Zeug in ihre Teekanne zu geben, wird der Duft des Tees den Geruch desMedikaments überdecken. Es ist wichtig, dass du mir Bescheid gibst, sobald sie den Tee getrunken hat.«
»Der Meister hat mir gesagt, dass ich dir zu gehorchen habe«, antwortete das Mädchen missmutig.
»Wenn ich gehört habe, was die Alte zu sagen hat, ist es vielleicht möglich, eine andere Person vor dem Rat zu überzeugen.«
»Und wenn die Person nicht will, bekomme ich dann die Erlaubnis, ein bisschen nachzuhelfen? Keine schwere Verstümmelung, das will der Meister nicht.«
Sie stieß einen so traurigen Seufzer aus, dass man beinahe schon Mitleid mit ihr bekam – wenn man außer Acht ließ, dass sie nur deshalb so niedergeschlagen war, weil man ihr verboten hatte, jemanden zu foltern, den sie noch nicht einmal kannte.
»Ich glaube, du wirst sehr überzeugend auftreten müssen, aber auf eine Weise, bei der du nicht zu viele Spuren hinterlässt.«
»Wenn du mit mir zufrieden warst, wirst du es ihm sagen?«
»Du meinst Tarr?«
»Den Meister«, verbesserte Néko mit einem Leuchten in den Augen.
»Ja, natürlich, ich wollte ihm gegenüber nicht respektlos sein. Das ist die Macht der Gewohnheit, wir sind Milchbrüder.«
»Brüder? Du hast auch mit ihm die Matte geteilt?«
»Alle Brüder und Schwestern tun das von Zeit zu Zeit«, sagte Suvaïdar.
Kein Shiro hätte sich eine derartige Indiskretion erlaubt, aber Néko war ein anderer Fall. Und Hand aufs Herz: Sie jagte Suvaïdar einen wirklichen Schrecken ein, auch wenn sie es nie eingestanden hätte.
»Teilst du die Matte auch heute noch mit ihm?«, hakte das Mädchen nach, wobei sie alle Regeln der Höflichkeit vergaß.
Als Suvaïdar antwortete, sie hätten es nur vor langer Zeit getan, als sie beide noch sehr jung gewesen waren, schien Néko beruhigt. Um Himmels willen! Néko war eifersüchtig wie eine Hündin, die nicht will, dass jemand ihre Jungen anfasst. Sie musste wirklich gestört sein.
»Du wirst es ihm sagen? Er hat versprochen, dass er sich persönlich meines Rückens annimmt, wenn du ihm keinen guten Bericht ablieferst, was mein Verhalten angeht. Er kann sehr fest zuschlagen, weißt du? Das letzte Mal, als er mich mit der Peitsche geschlagen hat, musste ich eine Woche auf dem Bauch schlafen.«
Néko lächelte stolz, als würde sie von einer Belohnung sprechen, und Suvaïdar gab dem Mädchen ihr Wort. Sie dankte dem Schicksal dafür, dass ihr nicht so übel mitgespielt worden war.
27
Suvaïdar öffnete die
Tür einen Spalt weit, ohne anzuklopfen, und warf einen Blick ins Innere des Zimmers. Néko hatte ihr versichert, dass die alte Dame allein sei, doch Suvaïdar hörte eine Stimme. Sie reckte den Hals, blieb jedoch im Schatten des Korridors stehen, in dem man zwei Lampen entzündet hatte. Néko mochte eine Psychopathin sein, aber sie hatte an alles gedacht.
Odavaïdar sprach leise mit sich selbst. Das Medikament begann langsam zu wirken. Nun würde ein einziges Wort reichen, um eine
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