Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
neue Assoziationskette in Gang zu setzen und Odavaïdar zu bewegen, über das zu sprechen, was man von ihr verlangte. Sie drehte den Rücken der Tür zu, ohne zu merken, dass jemand eingetreten war.
Suvaïdar kniete sich in die dunkelste Ecke hinter den Tisch, der mit Verzeichnissen, Videobändern und Holo-Cubes beladen war.
»Haridar«, murmelte sie.
»Hari«, brummte die Alte. »Ein schöner Junge, aber nichts im Kopf. Ich hätte eine reproduktive Bindung nicht dulden dürfen. Trotzdem, ein guter Kämpfer war er. Der jüngste von Haridars Sprösslingen kommt wenigstens nach ihm. Und er war gut auf der Matte.«
Haridar lachte laut. Wahrscheinlich dachte sie gerade an irgendein Erlebnis aus ihrer Vergangenheit. Suvaïdar verspürte keine Lust, etwas darüber zu hören. Das war Privatsache der alten Dame. Sollte sich jemals herausstellen, dass Odavaïdar nichts mit dem zu tun hatte, was geschehen war, wäre es unschön, Kenntnis von intimen Geschichten aus ihrem Leben zu haben – Geschichten, die zudem so weit in die Vergangenheit zurückreichen, dass nur wenige Mitglieder des Clans auf dem Laufenden sein würden.
»Haridar«, wiederholte Suvaïdar, diesmal deutlicher, und dieses Mal erzielte sie ein Ergebnis.
»Haridar! Rebellin von Kindheit an. Ich musste sie vorzeitig ihrer Pflegemutter entreißen und sie Vladimir Romano in Nova Estia anvertrauen. Ich habe ihm empfohlen, bei ihr nicht mit der Reitpeitsche zu knausern. Als sie wieder im Haus des Clans war, wurde sie zur Saz Adaï gewählt, obwohl sie noch jung war und obwohl es in ihrem Clan reifere Frauen gab, die zudem viel kompetenter waren als dieser Schussel.
Sie hat davon profitiert, dass sie Jori Jestak, mit dem sie gewohnheitsmäßig die Matte teilte, zum Berater gewählt hat. Eine Shiro mit einem festen Freund! Es war wie eine Asix vom Lande, die auf einem einsamen Bauernhof lebt. Was für eine Schande! Zusätzlich hat sie persönlich die beiden Kinder von ihm austragen wollen, als hätte eine Saz Adaï nichts Besseres zu tun, als anzuschwellen wie ein Mox mit Verdauungsbeschwerden. Jori Jestak musste eines Tages wegen ironischer Bemerkungen, die ihm zu Ohren gekommen waren, sogar in den Fechtsaal. Schade, dass seine Tochter, die halbe Asix, nicht nach ihm kommt. Sie glaubt, ich wüsste nicht, dass man sie ›halbe Asix‹ nennt, die arme Idiotin, aber ich weiß über alles Bescheid, was in meinem Hause geschieht. Sie hat diesen Spitznamen verdient. Sie weiß nicht, wie man einen Säbel in der Hand hält, und seit ihrer Jugend verhält sie sich schlecht, ganz wie ihre Mutter hat sie sich mit ihrem festen Freund in der Öffentlichkeit gezeigt. Doch Haridar hat wenigstens guten Geschmack bewiesen und einen Shiro gewählt.«
Die Alte murmelte kaum noch hörbar vor sich hin; die Worte quollen aus ihrem Munde wie ein Gebirgsbach – ein unaufhörlicher Redefluss. Suvaïdar beobachtete die Alte aus ihrer dunklen Ecke, unbeweglich wie eine Statue, damit sie nicht gestört würde und den Faden verlor. Suvaïdar wusste, dass sie die Mutter von Haridar war, aber sie hatte nicht geahnt, dass diese ihre Tochter so sehr gehasst hatte.
Odavaïdar kam vom Thema ab, sodass Suvaïdar mit etwas lauterer Stimme den Namen ihrer Mutter wiederholte, wobei sie diesmal auch deren Titel nannte:
»Haridar Sadaï.«
»Als man sie zur Sadaï gewählt hatte – ich weiß bis heutenicht, warum das überhaupt geschehen ist –, wurde es noch viel schlimmer mit ihr. Von heute auf morgen wollte sie unsere heiligsten Traditionen beiseitestoßen, obwohl sie das ausmachen, was wir sind: die Shiro, Herrscher über Ta-Shima. Dass sie ihre beiden ersten Frechdachse bis zu den Volljährigkeitsprüfungen einer Pflegemutter anvertraut hat, war nicht nur ein Zeichen von Geistesschwäche, es war ein Verbrechen an unserer Rasse. Sie wurden zur Schande des gesamten Huang-Clans. Micha’l«, sie betonte seinen Namen, als würde sie ihn ausspucken, »lebte mit seinen abstoßenden Halbkindern in den provisorischen Hütten, und das andere Kind, die Tochter, war noch schlimmer als er. Statt zu gehorchen, stellte sie immerzu Fragen.
Ich hoffte, sie nie wiedersehen zu müssen, nachdem ich sie dazu getrieben hatte, zu den Sitabeh zu gehen. Dort war ihr Platz – arme Idiotin, überzeugt davon, dass sie es mit mir aufnehmen könnte. Ich wollte einfach nur, dass sie aus meiner Umgebung verschwindet. Zum Glück war sie schon immer leicht zu manipulieren. Sie war nicht störrisch wie ein Maulesel,
Weitere Kostenlose Bücher