Das Gesicht der Anderen
herausfinden. Aber zunächst einmal sollen wir natürlich diese Ms. Leslie Anne Westbrook ausfindig machen und wieder nach Hause bringen. Sie ist Einzelkind, und G. W. hütet sie wie seinen Augapfel.”
“Steht denn fest, dass sie ausgerissen ist?” Dante Moran öffnete den Aktenordner und überflog die in wenigen Absätzen von Daisy zusammengefassten Informationen. “Westbrook ist immerhin ein Multimillionär. Könnte es nicht sein, dass das Mädchen entführt wurde, um Lösegeld von der Familie zu erpressen?”
“Das Mädchen ist inzwischen seit über vierundzwanzig Stunden verschwunden und bisher hat sich noch niemand wegen eines Lösegelds bei der Familie gemeldet”, bemerkte Sawyer. “Die Mutter ist natürlich außer sich vor Sorge, und G. W. hat eine Viertelmillion Dollar Belohnung für sachdienliche Hinweise zum Verbleib des Mädchens ausgesetzt. Sam sagt, wir sollen so schnell wie möglich einen unserer Agenten mit dem Firmenflieger nach Fairport, Mississippi, schicken.”
“Ist der Geheimdienst involviert?”, wollte Domingo Shea wissen.
Sawyer schüttelte den Kopf. “Es gibt keinen Hinweis auf eine Entführung, und auch die Familie ist offenbar davon überzeugt, dass das Mädchen einfach weggelaufen ist. Sie wollen den Geheimdienst nicht beanspruchen. Die örtliche Polizei und der Sheriff sind informiert. Sam meint, dass einer unserer Exgeheimdienstler am besten für diese Aufgabe geeignet ist.” Sawyer sah zuerst Lucie, dann Dante an.
“Sollen wir eine Münze werfen?” Lucie grinste Dante an.
“Von mir aus”, sagte er und drehte gedankenverloren den Ring mit Diamanten und Onyx an seinem Finger.
“Lesen Sie sich die Informationen zu dem Fall durch und beachten Sie das Bild des Mädchens, das uns ihr Großvater per Fax übermittelt hat.” Sawyer klappte seinen Ordner auf und hielt das 20 mal 25 Zentimeter große Bild hoch. “Ein hübsches Kind. Wollen wir hoffen, dass es nicht in die falschen Kreise geraten ist oder von der falschen Person mitgenommen wurde.”
Dantes letzte Mission für das FBI war die Zerschlagung eines seit zehn Jahren agierenden Kinderhändlerrings gewesen. Deshalb galt er wohl jetzt bei Dundee als Experte in Sachen Kindesentführungen. Und in der Tat eignete sich der vorliegende Fall perfekt als erster Auftrag. Dante war erst seit wenigen Wochen bei der Agentur, hatte den strengen Orientierungskurs durchlaufen und war heiß darauf, endlich aktiv zu werden.
Lucie betrachtete das Foto. “Oh, sie ist wirklich hübsch. Blond und zart. Ein Sklavenhändlerring würde Unmengen für dieses hübsche Ding zahlen.”
Dante zog das Bild hervor, um einen raschen Blick darauf zu werfen, aber ab dem Augenblick, als er das Gesicht des Mädchens sah, konnte er das Foto nicht mehr weglegen. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er das Porträt des atemberaubend schönen Mädchens sah.
“Was ist denn mit Ihnen los?” Dom Shea boxte Dante an die Schulter. “Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.”
Ja, so kam es ihm auch vor. Er hatte ein Gespenst gesehen. Unbewusst strich Dante mit dem Zeigefinger zärtlich über Wange und Kinn des Mädchens auf dem Foto. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Vielleicht hatte ihm ja seine Fantasie einen Streich gespielt. Wieder betrachtete er das Foto. Verdammt! Wie war es nur möglich, dass dieses sechzehnjährige Mädchen Amy wie aus dem Gesicht geschnitten war? Seiner Amy, seiner ersten und einzigen Liebe, die mit siebzehn gestorben war. Vor einer Ewigkeit.
“Dante, alles in Ordnung?”, erkundigte sich jetzt auch Lucie.
“Alles bestens”, sagte Dante. “Ich übernehme den Auftrag.”
“Gut.” Sawyer klappte seinen Aktenordner zu. “Das hatte ich gehofft. Abgesehen davon, dass das Ihr erster Auftrag für uns ist, hielt ich Sie auch für den am besten geeigneten Mann. Ich wollte Ihnen nur die Chance geben, sich freiwillig zu melden.”
Lucie zuckte die Schultern. “Das wäre also geklärt. Wollen Sie mich als Backup mit dabeihaben?”
Sawyer sah Lucie misstrauisch an. “Es ist keine schlechte Idee, dass Sie ihn unterstützen. Sie können die Mutter beruhigen, während Dante sich um den Rest kümmert.”
Dante nickte zustimmend, ohne den Blick von Leslie Anne Westbrook abzuwenden. Ihre Ähnlichkeit mit Amy war unheimlich.
Und unmöglich. Amy war tot. Er hatte lange gebraucht, um diesen Verlust zu akzeptieren, und jetzt weckte der Anblick dieses Mädchens in ihm die unrealistische Hoffnung, dass seine
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