Das Gesicht der Anderen
Parkplatz entdeckte er, dass das rechte Vorderrad an seinem Mustang platt war. Er hatte versucht, von einer Telefonzelle aus im
Dairy Dip
anzurufen, aber offensichtlich war Jerry schon gegangen, denn er hatte niemanden erreicht.
Vielleicht hatte sich Amy ja von Jerry nach Hause bringen lassen? Nein, sie wartet, sagte sich Dante. Er holte sie jeden Abend ab, wenn sie arbeitete, damit sie ein bisschen Zeit zusammen verbringen konnten. Dreißig mickrige Minuten. Komisch, wie sein ganzes Leben um die Momente kreiste, die er mit Amy verbringen konnte. Amys Pflegeeltern, die Morrisons, waren nette Leute, aber sie schätzten es nicht, dass sie mit ihm zusammen war. Es störte sie, dass er ein paar Jahre älter war als Amy und deutlich erfahrener. Als er Amy kennenlernte, hatte er sich natürlich gefragt, wie lange es wohl bei ihr dauern würde, bis er ihr an die Wäsche gehen durfte. Mehr als Sex hatte er noch nie von einer Frau gewollt. Und Amy war eines dieser Mädchen, bei dem man allein schon vom Anblick eine Erektion bekam. Blaue Augen, blonde Haare und eine absolute Traumfigur.
Aber Amy Smith hatte sich ihm nicht so leicht hingegeben, wie er es von anderen Mädchen gewohnt war. Seit er vierzehn war, hatten es die Frauen auf ihn abgesehen. Was konnte er dafür, dass er so unwiderstehlich war? Dante musste lachen.
Als er Amy vor zehn Monaten kennengelernt hatte, konnte er bereits auf eine ganze Reihe gebrochener Mädchenherzen zurückblicken. Amy sollte nur eines mehr in seiner Sammlung werden. Aber sie hatte ihm zwei Monate lang nicht einmal erlaubt, sie zu küssen. Zuerst wollte sie nicht einmal Händchen halten mit ihm, sodass er schon beschlossen hatte, sie zu vergessen und bei einer anderen sein Glück zu versuchen. Aber sein Herz ließ ihm keine Chance – er hatte es von Anfang an an sie verloren. Dante war noch nie verliebt gewesen, doch die süße, unschuldige Amy verdrehte ihm völlig den Kopf. Erst nach acht Monaten hatte er sie überreden können, mit ihm zu schlafen. Er hatte geglaubt, wenn er sie einmal gehabt hätte, wäre er nicht mehr so scharf auf sie. Aber da hatte er sich gründlich geirrt. Je häufiger sie miteinander schliefen, desto mehr begehrte er sie. Und er wollte sie heiraten, sie für immer an sich binden. Nur ließen ihn die anderen Frauen nicht in Ruhe – manche musste er sich beinahe gewaltsam vom Hals schaffen. Sie interessierten ihn nicht mehr. Amy war alles, was er wollte. Jetzt und für immer.
Dante parkte seinen Mustang in einer Parklücke direkt vor dem
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. Die Hauptstraße war völlig ausgestorben, kein Mensch zu sehen. Wo war Amy? Er öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen. Ein kalter Windstoß erfasste ihn, und er schloss den Reißverschluss seiner Lederjacke und schlug den Kragen hoch. Er legte die Hände neben die Augen und spähte durch die Scheibe ins
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. Vielleicht wartete sie ja drinnen im Warmen. Doch das Lokal war leer. Dante ging die Straße hinunter, um Amy zu suchen. Als er sich wieder in die entgegengesetzte Richtung aufmachte, knirschte plötzlich etwas unter seinem Schuh. Er hob den Fuß und sah etwas Glänzendes auf dem Bürgersteig liegen.
Dantes Herz setzte einen Schlag aus. Er bückte sich und hob eine Goldkette auf. Die Kette war zerrissen. Hatte er sie zerrissen, als er draufgetreten war? Nein, eher nicht. Der Verschluss war verbogen, als ob jemand die Kette abgerissen und weggeworfen hätte.
An der Kette baumelte ein kleiner Diamantring. Es war der Verlobungsring, den er Amy geschenkt hatte. Den sie um den Hals getragen und unter ihrer Kleidung verborgen hatte.
“Amy!”, rief Dante verzweifelt. “Amy!”
Er rannte die Straße hinauf und bog in die kleine Straße hinter dem
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ein. Die Angst bohrte sich in seinen Magen. Voller Panik rief er ihren Namen, immer wieder, in der aussichtslosen Hoffnung, sie würde ihm antworten. Doch in seinem Unterbewusstsein war ihm längst klar, dass sie nicht antworten würde – dass sie ihm nicht antworten konnte.
Man soll nicht immer gleich das Schlimmste annehmen, versuchte Dante sich zu beruhigen. Ruf erst mal die Morrisons an. Ruf Jerry an. Wenn sie auch nicht wissen, wo Amy ist, ruf die Polizei an. Du wirst sie finden. Egal, was passiert ist, du wirst sie finden.
“Wenn ihr jemand etwas angetan hat, bringe ich ihn um!”, schrie er laut, als er wieder auf der Hauptstraße stand. “Ich werde dich finden, Amy! Ich schwöre es bei Gott, ich finde dich!”
1. KAPITEL
S iebzehn
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