Das Gesicht
seinen Leuten. »Du bist rationaler, du bist …«
»Wir sind nicht besser. Uns fehlt etwas … etwas, was die Menschen haben.«
Das war eine unverschämte Lüge, die er nicht dulden konnte. Das war Häresie.
»Die Hilfe, die du brauchst«, beharrte Victor ungeduldig, »kann nur ich dir geben.«
»Wenn ich genug von ihnen aufschneide und hineinschaue, dann werde ich früher oder später entdecken, was sie … glücklicher macht, als wir es sind.«
»Das ist keine rationale Überlegung. Suche mich im Hände der Barmherzigkeit auf …«
»Da gibt es dieses Mädchen, das ich manchmal sehe. Sie ist ein ganz besonders fröhliches Geschöpf. In ihr werde ich die Wahrheit finden, das Geheimnis, das, was mir fehlt.«
Der Abtrünnige legte auf.
Wie schon bei seinem letzten Anruf wählte Victor *69. Wie schon der letzte Anruf kam auch dieser von einer Nummer, deren automatische Rückruffunktion abgeschaltet worden war.
Victor ließ sich von dieser Entwicklung nicht den Appetit
verderben, aber seine glänzende Stimmung war ein wenig getrübt. Er beschloss, vom Tee zum Wein überzugehen.
Bier vertrug sich mit chinesischen Gerichten häufig besser als Wein, aber Victor war nun mal kein Biertrinker.
Im Gegensatz zu vielen anderen chinesischen Restaurants hatte das Quan Yin einen erlesenen Weinkeller, der mit den besten Jahrgängen bestückt war. Der Kellner – in einem weißen Frackhemd mit Rüschen und Fliege und einer schwarzen Frackhose – brachte ihm die Weinkarte.
Während er seine Suppe aufaß und auf einen Salat aus Palmherzen und Pfefferschoten wartete, studierte Victor eingehend die Weinkarte. Er schwankte zwischen einem Weißwein, der gut zu Schweinefleisch passte, und einem anderen, der sich besser mit Meeresfrüchten vertrug.
Er würde weder Schweinefleisch noch Meeresfrüchte essen. Der Hauptgang, den er nicht zum ersten Mal bestellte, war eine so rare Delikatesse, dass jeder Weinkenner unschlüssig sein musste, welcher Wein sich dazu am besten eignete. Schließlich wählte er einen ausgezeichneten Pinot Grigio und ließ sich das erste Glas zu seinem Salat munden.
Der Hauptgang wurde unter Einhaltung des vollständigen Zeremoniells serviert, begonnen damit, dass der Küchenchef, ein Mann namens Lee Ling, der so rund wie ein Buddha war, höchstpersönlich die Blütenblätter roter Rosen auf dem weißen Tischtuch verstreute.
Zwei Kellner erschienen mit einem reich verzierten Bronzetablett, auf dem ein Kupfertopf mit Füßen stand, der einen Liter Inhalt fasste und mit siedendem Öl gefüllt war. Ein kleiner Spiritusbrenner unter dem Topf sorgte dafür, dass das Öl weiterhin brodelte.
Sie stellten das Tablett auf den Tisch, und Victor atmete tief das Aroma ein, das aus dem Topf aufstieg. Diesem zweifach geklärten Erdnussöl war eine Mischung aus Pfefferölen beigegeben. Der Duft war einfach göttlich.
Ein dritter Kellner stellte einen schlichten weißen Teller vor Victor ab. Neben den Teller legte er rote Essstäbchen. So behutsam, als gälte es, das kleinste Klappern zu vermeiden, legte der Kellner eine Zange aus rostfreiem Stahl auf den Teller.
Die Griffe der Zange waren mit Gummi überzogen, um sie gegen die Hitze zu isolieren, die aus dem siedenden Öl in den Stahl aufsteigen würde. Die Enden zum Greifen waren geformt wie die Blätter von Lotusblüten.
Der Topf mit dem Öl stand rechts neben Victor. Jetzt wurde eine Schale Safranreis direkt vor seinem Teller abgestellt.
Lee Ling, der sich in die Küche zurückgezogen hatte, kehrte mit dem Hauptgang zurück, den er links neben Victors Teller stellte. Die Delikatesse erwartete ihn in einem silbernen Serviergefäß mit Deckel.
Die Kellner verbeugten sich und zogen sich zurück. Lee Ling wartete lächelnd.
Victor nahm den Deckel von dem silbernen Serviergefäß. Das Gefäß war mit Kohlblättern ausgekleidet, die kurz gedämpft worden waren, um sie geschmeidig zu machen.
Diese seltene Delikatesse tauchte nicht auf der Speisekarte auf. Sie war nicht immer erhältlich und sowieso nur auf Vorbestellung zu haben.
Lee Ling hätte sie ohnehin nur für diesen einen unter tausend Kunden zubereitet, den er schon seit Jahren kannte, dem er traute und von dem er wusste, dass es sich bei ihm um einen echten Feinschmecker handelte. Der Kunde musste aber auch intim mit den Feinheiten der regionalen chinesischen Küche vertraut sein, um überhaupt auf den Gedanken zu kommen, nach eben diesem Gericht zu fragen.
Städtische Beamte, die Lizenzen für
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