Das Gesicht
Persönlichkeiten wurde in der Presse mehr geschrieben; im Vergleich zu Helios waren sie allgegenwärtig.
Hinzu kam, dass Carsons Versuche, den wenigen Fakten über die Vergangenheit von Helios vor seiner Zeit in New Orleans nachzugehen, ins Nichts führten; jede Spur verflüchtigte sich wie Dunstschwaden in der Morgensonne.
Er hatte »in Europa« studiert, aber das war auch schon alles, was über seine Alma Mater bekannt war.
Obwohl er sein Vermögen geerbt hatte, wurden die Namen seiner Eltern nie genannt.
Es hieß, während des Dot-com-Booms hätte er dieses Vermögen mit ein paar finanziellen Geniestreichen gewaltig vergrößert. Auf Einzelheiten wurde nicht eingegangen.
Verweise auf »eine Kindheit in den Neuenglandstaaten« nannten nie den genauen Bundesstaat, in dem er geboren und aufgewachsen war.
Eines faszinierte Carson an den verfügbaren Fotos. In seinem ersten Jahr in New Orleans war Victor eine gut aussehende Erscheinung von vermutlich Ende dreißig gewesen, beinah umwerfend attraktiv. Auf den jüngsten Fotos sah er kaum älter aus.
Er hatte sich eine schmeichelhaftere Frisur zugelegt – aber er hatte nicht weniger Haare als damals. Falls er sich Eingriffen unterzogen hatte, musste er an einen ganz besonders geschickten plastischen Chirurgen geraten sein.
Vor acht Jahren war er von einem nicht näher angegebenen Ort in den Neuenglandstaaten mit einer Braut zurückgekehrt, die nicht älter als fünfundzwanzig zu sein schien.
Sie hieß Erika, aber Carson konnte nirgends eine Erwähnung ihres Mädchennamens finden.
Erika wäre jetzt etwa dreiunddreißig. Auf den neuesten Fotografien sah sie keinen Tag älter aus als auf den Bildern, die vor acht Jahren aufgenommen worden waren.
Manche Frauen hatten das Glück, ihr jugendliches Aussehen zu bewahren, bis sie vierzig wurden. Erika könnte zu diesen Frauen gehören.
Dennoch erschien es ihr bemerkenswert, wenn nicht gar unheimlich, dass beide, sowohl sie als auch ihr Mann, die Fähigkeit besitzen sollten, allen Alterungsprozessen zu trotzen.
»Sie haben ihn, O’Connor.«
Verblüfft blickte sie vom Computer auf und sah Tom Bowmaine, den wachhabenden Einsatzleiter, am anderen Ende des Großraumbüros der Mordkommission in der offenen Tür zum Flur stehen.
»Den Chirurgen«, führte Tom näher aus. »Tot. Er ist von einem Dach gesprungen.«
58
Die Gasse war zwischen zwei Kreuzungen abgeriegelt, um für das CSI-Team so viele Spuren wie möglich intakt zu erhalten. Dasselbe galt auch für das Dach des Gebäudes und den Lastenaufzug.
Carson stieg die Treppe zu Roy Pribeaux’ Wohnung hinauf. Der Streifenpolizist vor der Tür kannte sie und ließ sie ein.
Sie hatte fast damit gerechnet, Harker oder Frye oder sogar beide bereits vorzufinden. Keiner von beiden war anwesend.
Ein anderer Detective, Emery Framboise, hatte sich gerade in der Nähe aufgehalten und dem Ruf Folge geleistet.
Carson mochte Emery. Bei seinem Anblick stellte sich nicht ein einziges Haar in ihrem Nacken auf.
Er war noch jung – vierunddreißig – und kleidete sich so, wie gewisse ältere Detectives früher einmal herumgelaufen waren, bevor sie beschlossen hatten, sie sähen aus wie Rückblenden in den verlorenen Süden der fünfziger Jahre. Anzüge aus Knitterleinen, Nylonhemden, schmale Krawatten und ein steifer Strohhut, der kerzengerade auf seinen Kopf gedrückt war.
Irgendwie brachte er es fertig, diesen Retrolook modern wirken zu lassen. Vielleicht lag es daran, dass er ansonsten durch und durch moderne Ansichten vertrat.
Carson war überrascht, Kathy Burke, Freundin und Psychiaterin, gemeinsam mit Emery in der Küche anzutreffen. In erster Linie führte Kathy die vorgeschriebenen therapeutischen Sitzungen mit Polizeibeamten durch, die in Schießereien verwickelt worden oder in andere traumatische Situationen geraten waren, doch sie erstellte auch psychologische Persönlichkeitsprofile von Tätern wie dem Chirurgen, die man sich nicht ohne weiteres vorstellen konnte. An Tatorten tauchte sie selten auf. Oder jedenfalls nicht in einem so frühen Stadium.
Kathy und Emery sahen zwei Leuten vom CSI-Team zu, die gerade dabei waren, den Inhalt einer der beiden Tiefkühltruhen auszupacken. Tupperware-Behälter.
Als Carson sich Kathy und Emery anschloss, las einer der Leute von der Spurensicherung das Etikett auf dem Deckel einer der Dosen vor. »Linke Hand.«
Sie hätte auch ohne diese beiden Wörter den Kern der Situation erfasst, denn der geöffnete Deckel der zweiten
Weitere Kostenlose Bücher