Das Gesicht
Gefriertruhe gab den Blick auf die Leiche einer jungen Frau mit fehlenden Augen frei.
»Warum bist du nicht zu Hause und liest Bücher über verwegene Heldinnen und fliegende Drachen?«, stichelte Carson.
»Eine andere Art von Drachen liegt tot draußen in der Gasse«, sagte Kathy. »Ich wollte seine Höhle sehen, um mir selbst ein Bild davon zu machen, ob mein Persönlichkeitsprofil stichhaltig ist.«
»Rechte Hand«, sagte einer der Kriminalisten, als er eine weitere Dose aus der Gefriertruhe nahm.
Emery Framboise wandte sich an Carson. »Es sieht ganz danach aus, als sei euch beiden gerade eine Tonne Arbeit abgenommen worden.«
»Ich vermute, sein Sturz vom Dach war kein Unfall?«
»Selbstmord. Er hat eine Nachricht hinterlassen. Wahrscheinlich hat er gehört, dass ihr beide ihm auf der Spur seid, und da hat er sich gesagt, er sei ohnehin schon ein zum Tode Verurteilter.«
»Begehen mordwütige Soziopathen Selbstmord?«, fragte sich Carson laut.
»In den seltensten Fällen«, erwiderte Kathy. »Aber es soll schon vorgekommen sein.«
»Ohren«, sagte einer der Männer, als er eine kleine Dose aus der Tiefkühltruhe nahm, und sein Partner las vom Etikett einer anderen »Lippen« ab.
»Ich habe meine Mutter enttäuscht«, sagte Emery. »Sie wollte so gern, dass ich Pilot bei einer Fluggesellschaft werde wie mein Dad. In Momenten wie diesem denke ich mir, vielleicht wäre ich mitten in der Nacht hoch oben, wo der Himmel sauber ist, tatsächlich besser dran. Dann würde ich jetzt vielleicht gerade von San Francisco nach Tokio fliegen.«
»Klar«, sagte Carson, »aber welcher Pilot bei einer Fluggesellschaft kann seinen Enkelkindern jemals solche Geschichten erzählen, wenn er sie ins Bett packt? Wo ist der Abschiedsbrief?«
Kathy sagte: »Ich zeige ihn dir.«
Im Wohnzimmer stand in einer Ecke ein Schreibtisch mit einem Computer. Weiße Buchstaben auf blauem Untergrund sagten auf eigentümliche Weise Lebewohl.
GETÖTET, WAS ICH WOLLTE. GENOMMEN, WAS ICH BRAUCHTE. JETZT VERABSCHIEDE ICH MICH, WANN ICH WILL UND WIE ICH WILL, UND GEHE, WOHIN ICH WILL – NOCH EINE STUFE TIEFER ALS DIE HÖLLE.
»Der hämische Tonfall ist typisch für einen Soziopathen«, sagte Kathy. »Die Andeutung, dass er sich einen fürstlichen Platz in der Hölle verdient hat, ist auch nicht einmalig, aber wenn jemand eine satanische Phantasie auslebt, findet man im Allgemeinen okkulte Literatur und die entsprechenden Poster. Bisher sind wir hier auf nichts dergleichen gestoßen.«
Carson hörte ihr nur mit einem Ohr zu, denn ein Déjà-vu-Erlebnis ließ sie frösteln. Als sie den Bildschirm anstarrte und die Worte zweimal, dreimal, viermal las, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, diese Nachricht schon einmal gesehen zu haben.
Sie zog einen Latexhandschuh aus einer Jackentasche, stülpte ihn über ihre rechte Hand und gab den Befehl ein, den Text auszudrucken.
»Es gab Zeiten«, sagte Kathy, »da waren Abschiedsbriefe noch suspekt, wenn sie nicht mit der Hand geschrieben waren. Aber heutzutage benutzen sie oft ihre Computer. In einigen Fällen senden sie sogar im letzten Moment, bevor sie sich umbringen, noch Abschiedsbriefe per E-Mail an Freunde und Verwandte. Das nenne ich Fortschritt.«
Carson zog den Handschuh aus und sagte, während sie ungeduldig auf den Ausdruck wartete: »Ist dort unten in der Gasse noch genug von seinem Gesicht übrig, um an ein gutes Foto zu kommen?«
»Nein«, sagte Kathy. »Aber sein Schlafzimmer ist voll davon. «
Das konnte man wohl sagen. Auf beiden Nachttischen und auf der Kommode standen ein Dutzend, wenn nicht noch mehr, Fotos von Roy Pribeaux, in erster Linie schmeichelhafte Aufnahmen von Profifotografen, jede in einem kostspieligen verzierten Silberrahmen.
»An Selbstachtung scheint es ihm nicht gemangelt zu haben«, bemerkte Kathy trocken.
59
Jenna Parker, fünfundzwanzig, lebte für Partys. Es schien, als würde sie jeden Abend zu einer Party eingeladen.
Heute Abend hatte sie sich offensichtlich schon vorher etwas reingezogen, um sich in Stimmung für ein ausgelassenes spätnächtliches Gelage zu bringen, denn als sie aus ihrer Wohnungstür kam und unmelodisch vor sich hin summte, war sie bereits reichlich zugedröhnt.
Jenna war, ob mit oder ohne Drogen, unaufhörlich glücklich und lief selbst an regnerischen Tagen mit sonnigem Gemüt umher.
An diesem Abend ohne Regen schien sie einen halben Zentimeter über dem Boden zu schweben, als sie versuchte, ihre Tür
Weitere Kostenlose Bücher