Das Gewicht der Liebe
verheiratet waren, trug sie immer eine Socke am linken Fuß. Im Bett. Immer. Sie schämte sich wegen dieses kleinen Zehs.«
Eine Frau rechts von Roxanne flüsterte dem neben ihr sitzenden Mann etwas zu. Überall ertönte Getuschel.
Sie halten sie für verrückt, dachte Roxanne. Gut.
»Gab es noch mehr dieser kleinen ›Marotten‹?«
»Bevor Merell geboren wurde, sagten alle – der Arzt, die Schwester, auch der Medizintechniker, der die Ultraschallaufnahmen auswertete –, dass es ein Junge werden würde. Als es dann ein Mädchen war, setzte sich Simone in den Kopf, dass Merell in Wahrheit gar nicht unser Kind ist. Es war wie die Sache mit dem kleinen Zeh. Anfangs merk te ich gar nicht, dass sie es ernst meinte. Aber sie fasste Merell nicht an. Sie ließ sie den ganzen Tag in ihrem Gitterbett liegen, sodass meine Mutter kommen musste, um zu helfen. Und als es ihr nach einer Weile besser zu gehen schien, redete sie die ganze Zeit nur davon, dass sie es beim nächsten Mal richtig machen wird.«
»Richtig machen? Was meinte sie damit?«
»Wir wünschten uns beide einen Sohn.«
»Wie viele Fehlgeburten hatte Ihre Frau danach?«
»Mindestens vier. Vielleicht fünf.«
»Das ist sehr viel, finden Sie nicht? Waren es vorzeitige Abgänge?«
Johnny rieb sich die Stirn. »Eine Schwangerschaft war so weit fortgeschritten, dass sie ins Krankenhaus musste. Von der Schwester erfuhr sie dann, dass es ein Junge geworden wäre. Simone hat Monate gebraucht, um darüber hinwegzukommen.«
»Was geschah, als die Zwillinge geboren wurden?«
»Es war wie bei Merell. Sie wollte sich nicht um sie kümmern. Sie gewöhnte sich an, fast den ganzen Tag im Bett zu bleiben.«
»Eineinhalb Jahre später kam Olivia auf die Welt. Sie litt unter infantilem Säurereflux. Wie zeigte sich das?«
»Sie schrie. Vor allem nachts. Wir konnten nicht mehr schlafen.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Sie herumgetragen.«
»Für wie lange?«
Johnny zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Stunden. Von einem Ende der Diele zum anderen. Manchmal schlief ich im Gehen ein, aber ich trug sie weiter herum.«
»Hat Simone ihr Baby auch herumgetragen?«
»Sie hat es versucht. Am Anfang. Und irgendwann weinte sie einfach nur noch, wenn Olivia zu schreien begann. Manchmal bin ich nach unten gegangen und habe die Nanny geweckt, aber sie musste den ganzen Tag mit Simone und den Kindern zusammen sein … Es war für alle die beste Lösung, wenn ich mich nachts um Olivia kümmerte.«
»Mr. Duran, klang das, was Sie gehört haben, in etwa so?«
Cabots Kollegin drückte eine Taste auf dem Kassettenrekorder, und die Schreie eines Babys hallten durch den Gerichtssaal. Johnny zuckte zusammen. Roxanne hielt sich unwillkürlich die Ohren zu.
»Das genügt, Mr. Cabot«, donnerte der Richter. »Ich sagte, Sie könnten es zehn Sekunden abspielen. Die Zeit ist um!« Er klopfte mit seinem Hammer und rief in die lärmenden Zuschauerreihen: »Ich werde den Gerichtssaal räumen lassen, wenn Sie mich dazu zwingen.«
»Was haben Sie getan, um Ihrer Frau bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen?«
»Ich habe eine Nanny und eine Zugehfrau eingestellt, wir haben ein Ferienhaus gekauft, wo sie sich erholen konnte. Ich habe ein Apartment für ihre Mutter gebaut, damit sie in der Nähe ist. Eine Zeit lang beschäftigten wir einen Koch. Als sie mit Olivia schwanger war, wurden jeden Montagmorgen die Mahlzeiten für die ganze Woche geliefert. Und das war kein Billigfraß. Es war gutes Essen, eine Menge Gemüse. Nahrhaft.«
Johnny funkelte Cabot an, verbat sich jeden Wider spruch. Dann schien ihm bewusst zu werden, wie defensiv er sich anhörte. Er lehnte sich zurück, und seine Stimme war brüchig vor Erschöpfung. »Ich ließ sie den ganzen Tag im Bett bleiben, sagte nie etwas dagegen. Ich kaufte ihr zwei neue Autos, weil ich dachte, sie würde dann vielleicht etwas unternehmen. Früher hatte sie ein paar Freundinnen. Aber …«
»Aber was, Mr. Duran?«
»Sie war wie eine wandelnde Leiche. Ein Zombie. Sie kümmerte sich um nichts, sie machte nichts, absolut nichts. Wenn ich nach Hause kam, war sie meist noch im Nachthemd und hatte keine Ahnung, wie spät es war. Herrgott noch mal, sie nahm nicht einmal ein Bad!«
»Am Abend vor dem Vorfall, haben Sie ihr da gedroht, Ihre Schwester Alicia ins Haus zu holen?«
»Was hätte ich denn tun sollen? Ich war mit meiner Weisheit am Ende. Die Nanny war weg, und meine Schwiegermutter war mit anderen Dingen beschäftigt. Ich konnte
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